Manchmal reicht ein einfacher Satz, scheinbar ohne tiefere Bedeutung, um unsere innere Gedankenmaschine richtig auf Trab zu bringen. Einen solchen Satz hat die Video-Künstlerin Stefanie Rübensaal als Titel für ihr neues Stück gewählt, das nun im Technical Ballroom Premiere feiert: „Life on Earth is long“. Ja, tatsächlich? Fragt sich nur für wen.
Vor etwa einem Jahr geschah etwas Bahnbrechendes in Oldenburg: Als erste deutsche Bühne vereinte der Technical Ballroom konsequent digitale und analoge Elemente und eröffnete den Nutzer:innen dadurch völlig neue Möglichkeiten. Das Team um Jonas Hennecke und Kevin Barz brannte in der ersten Spielzeit ein wahres Feuerwerk an spektakulären Formaten ab: „Offline“, „Die neuen vier Jahreszeiten“, „14 Tage Krieg“, „Und das Wort war Gott“ oder „Die Tagesshow“. Wie sich die Interaktion mit der Technik für eine Schauspielerin anfühlt, haben wir damals übrigens Anna Seeberger gefragt.
In dieser Spielzeit geht es etwas ruhiger zu als in der ersten. Neben den Wiederaufnahmen der jungen Klassiker „Offline“ und „14 Tage Krieg“ stehen lediglich drei Premieren an. Bevor im November „Woyzeck“ und im Januar „Saal 600“ an der Reihe sind, startet nun im Oktober „Life on Earth is long“. Der Titel des Stücks gibt bereits den dezenten Hinweis, dass dieses Stück mit dem Leben auf Erden zu tun haben wird. Doch worum geht es genau? Und welche Rolle spielen dabei die technischen Möglichkeiten? Das haben wir uns für euch angeschaut.
TECHNICAL BALLROOM
LIFE ON EARTH IS LONG
PREMIERE: FR, 20. OKTOBER, 20 UHR (TICKETS)
WEITERE TERMINE:
SA, 21. OKTOBER, 20 UHR* (TICKETS)
DO, 26. OKTOBER, 20 UHR (TICKETS)
FR, 27. OKTOBER, 20 UHR (TICKETS)
SA, 28. OKTOBER, 20 UHR* (TICKETS)
* IM ANSCHLUSS SILENT DISCO MIT HOUSE, TECHHOUSE UND TECHNO
EXHALLE
PFERDEMARKT 8A
26121 OLDENBURG
Der Ritt über die Bühne
Und plötzlich ist man allein. Während kurz vor der Vorstellung von „Life on Earth is long" noch erwartungsvoller Trubel herrscht und allseits Vorfreude auf das experimentelle Stück zu spüren ist, markiert der Beginn schließlich einen drastischen Wechsel der Szenerie. Im plötzlichen Dunkel sehen wir uns konfrontiert mit einem minimalistischen Bühnenbild, eindringlichen Bildern, hypnotischen Klängen und philosophischen Texten, die uns einladen - oder geradezu zwingen - sich ganz auf das zu konzentrieren, was da kommen mag. Und das ist eine Menge!
„Es handelt sich um ein Multimedia-Stück“, gibt Regisseurin und Videodesignerin Stefanie Rübensaal die grobe Richtung vor - und angesichts der Menge an sinnlichen Eindrücken, die auf das Publikum einströmen, kann man ihr nur zustimmen. Bei dem Stück handele es sich nicht etwa um ein klassisches Schauspiel und es sei auch nicht linear angelegt, erläutert sie weiter. „Es gleicht einer Collage aus verschiedenen Elementen - wie Live-Electronica von Sofia Čvoro, Videokunst und Performance.“ Und das sei noch nicht alles: Darüber hinaus gebe es mittels Tablets auch noch eine Interaktion des Publikums. „Es ist ein Ritt über die Bühne“, schmunzelt die Schweizerin.
Endliche Weiten
Die Idee für das Stück geisterte bereits seit dem letzten Winter in Stefanies Kopf herum, konkrete Gestalt nahm es aber erst an, als sich die Möglichkeit ergab, es im Technical Ballroom zu realisieren. „Die Produktion ist wirklich mit diesem Ort und seinen vielen Möglichkeiten entstanden“, erklärt die freischaffende Künstlerin. „Davon war ich regelrecht geflasht! Das hat viele Ideen angeregt und gefördert.“
Üblicherweise mache sie oft Grafik- und Video-Projektionen im öffentlichen Raum - und das in der Regel mit einfachem Equipment. Nun aber habe sie erstmals Gelegenheit gehabt, eine Projektion auf der riesigen LED-Wall des Technical Ballroom zu realisieren und mit Live-Musik zu verbinden. Die ist dank Sofia Čvoro durchaus zu einer gleichberechtigten Ebene geworden: „Stefanie hat mir beschrieben, wie die Videos aussehen werden“, gewährt sie einen Einblick in den Arbeitsprozess. „Daraufhin habe ich versucht, die Stimmungen akustisch einzufangen.“
Das ist ihr gelungen. Neben sphärischen, oft auch düsteren und manchmal sehr lauten Sounds spielen auch Popsongs eine große Rolle in „Life on Earth is long“. Das Leitthema des Stücks ist letztlich die Endlichkeit, die jedes noch so lange Leben irgendwann begrenzt - und die auch in in den Charts immer wieder Thema ist.
Bittere Breakups
Einige Male erklingen Tracks, die urspünglich zwar Breakups thematisierten, also die Endlichkeit von Liebesbeziehungen. In diesem Kontext aber gewinnen sie ganz neue Bedeutungsebenen hinzu, denn es geht ja um das Leben auf Erden - und dessen sehr unterschiedliche Länge für die verschiedenen Bewohner:innen. Wenn also bekannte Songs durch die Halle dröhnen und die Lyrics auf den Screens erscheinen, wird plötzlich der Planet zur Protagonistin und richtet sich an ein Gegenüber, das womöglich die Menschheit sein könnte - zum Beispiel in „Survivor“ von Destiny's Child:
Now that you're outta my life, I'm so much better You thought that I'd be weak without ya, but I'm stronger You thought that I'd be broke without ya, but I'm richer You thought that I'd be sad without ya, I love harder You thought I wouldn't grow without ya, now I'm wiser You thought that I'd be helpless without ya but I'm smarter I'm a survivor, I'm not gon' give up I'm not gon' stop, I'm gon' work harder I'm a survivor, I'm gonna make it I will survive, keep on survivin'
TECHNICAL BALLROOM DIE ZUKUNFT DES THEATERS Wer den Technical Ballroom noch nicht kennt und gerne wissen möchte, was es mit ihm auf sich hat, dem sei unser Podcast mit den beiden Initiatoren Jonas und Kevin ans Herz gelegt. Die beiden schildern dort aufregend und mitreißend, was das Neue an dieser Bühne, welche Möglichkeiten sie bietet und warum sie ein Theater für die Digital Natives ist - aber auch für alle anderen!
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Viel los im Kopf
Immer wieder tauchen auch forschende Fragen auf, die - ähnlich wie der Titel - längst nicht so simpel sind, wie es zunächst scheint. „Wer braucht wen“ lautet eine dieser vielfach wiederholten Fragen, „Kann ich sein ohne dich?" eine andere. Ob die Erde sie ausspricht oder der Mensch, ob sie angesprochen wird oder er? Das aufzulösen ist Aufgabe der Besucher:innen selbst.
Apropos: Sie sind auch mehrfach aufgefordert, über Tablets den Fortgang des Stücks mitzubestimmen. Nicht alle Entscheidungen verändern den Ablauf der Ereignisse, geben dafür aber Auskunft darüber, wie die Gruppe so „tickt“, in der man sitzt. Es ist ein faszinierender Effekt, dass man sich gedanklich intuitiv auch dazu verhält. Kurzum: es ist einiges Los im Kopf, wenn man sich „Life on Earth is long“ anschaut - und das ist auch beabsichtigt.
„Das Stück kann man als Impulsgeberin sehen. Auch wenn es kein klassisches Schauspiel mit einer Erzählung ist, ist es niedrigschwellig zugänglich“ zerstreut Stefanie etwaige Befürchtungen, die Materie könnte zu anspruchsvoll sein. „Das grundsätzliche Thema erschließen wir über die Fragestellung, dazu kann jede:r Gedanken und Gefühle entwickeln.“ Es sei hingegen aber nicht ihr Ziel, dass alle immer jede Ebene durchschauen.
Sowieso müsse Kunst nicht immer erklären und dürfe auch assoziativ sein. „Ich würde mich freuen, wenn das Stück zur Selbstreflexion anregt: Wo stehe ich, wo stehen wir und wie ist das Verhältnis?“ Letztlich sei es eine Einladung, die Perspektive zu wechseln und die eigene Rolle zu hinterfragen - eine finale Aussage gebe es aber nicht. Und so werden wir später im Stück auch mit Haddaways Eurodance-Smasher „What is love?“ alleingelassen, erkennen in den Texten aber plötzlich neue Qualitäten.
No, I don't know why you're not fair I give you my love, but you don't care So what is right and what is wrong? Gimme a sign What is love? Oh baby, don't hurt me Don't hurt me No more
Ungewohnte Erfahrung
Kein Zweifel: Life on earth is long hinterlasst niemanden völlig unberührt. Damit ist keineswegs gemeint, dass hier die Tränendrüse gedrückt wird. Nein, das Theaterexperiment kommt ohne große Gefühlsduselei aus. Vielmehr wird das Publikum in hoher Frequenz auf sehr unterschiedliche Weise getriggert. Dazu tragen Stefanies Videos und Performance ebenso bei wie Sofias Live-Sounds.
Wer am liebsten zur Niederdeutschen Bühne geht, wird in der Exhalle vielleicht enttäuscht werden. Alle, die sich in eine neue Erfahrung stürzen wollen und den Mut haben, auch mal etwas nicht zu verstehen, sei „Life on Earth is long“ ans Herz gelegt. Um zu tiefliegenden Gedanken und Gefühlen durchzudringen ist man manchmal einfach am besten: allein mit der Welt.
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