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DIE ZUKUNFT DES THEATERS

Zu den größten Träumen der Menschheitsgeschichte gehört jener von einer Zeitmaschine. Was könnte man nicht alles ändern oder vorhersehen? Doch dieser Traum ist genauso alt wie unrealistisch. Deshalb müssen wir bis auf weiteres unsere Vorstellungskraft bemühen, um in die Zukunft zu blicken. Wenn diese Fähigkeit auf Fachwissen trifft, dann entsteht dabei manchmal sogar etwas, das einer Zeitmaschine ähnelt - wie zum Beispiel der Technical Ballroom in der Exerzierhalle am Pferdemarkt.




Am Anfang ist freilich noch gar nichts digital. Es ist ein Aufbautag in der Exerzierhalle. Hier hört man keine Computerlüfter und keine Mausklicks, hier hört man Hammerschläge, Akkuschrauber und Industriestaubsauger. Trotzdem treffen wir die beiden Masterminds des Technical Ballroom - Jonas Hennicke und Kevin Barz - genau hier, in dieser lärmenden Umgebung. Denn auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nichts fertig ist, spürt man sofort: Hier passiert etwas Großes.


Was der Technical Ballroom überhaupt ist? Kevin reduziert die Antwort auf einen einzigen Satz: „Wir bauen hier das Tor zum Internet“. Damit ist alles gesagt und das Interview schon wieder vorbei! Nein, natürlich nicht: Kevins Schmunzeln verrät, wie sehr ihm bewusst ist, dass diese Aussage mehr offen lässt als aufklärt. Deshalb führt der 31-jährige Regisseur am Oldenburgischen Staatstheater aus: “Theater definiert sich sehr durch das Analoge: Durch das Erleben, das Zusammensein, das Zuschauen. Das ist ein sehr analoger Akt.“ Deswegen sei das Digitale sehr lange weggeschoben worden und nun bestehe immenser

Nachholbedarf.


Aufbauarbeiten zum Technical Ballroom in der Exerzierhalle Oldenburg
Vorstellungskraft gefragt: Zum Zeitpunkt unsere Gesprächs war der Ballroom not so technical. (Bild: Kulturschnack)

Jonas, stellvertretender Schauspielleiter am Staatstheater, hat das Projekt hat auch mit der Corona-Phase zu tun. Es sei vielleicht das einzig positive Ergebnis aus dieser Zeit, zumindest für das Staatstheater. „Wie haben damals fluchtartig die Reise ins Internet angetreten“, erinnert er sich zurück. „Wir haben auf einmal Vorstellungen gestreamed, Lesungen gemacht, Songs eingesungen und kleine Snippets produziert.“


Allerdings nicht mit dem gewünschten Erfolg: „Irgendwann haben wir geschnallt, dass wir auf auf einen Markt kamen, wo niemand auf uns gewartet hat - und wo alle anderen das eigentlich schon viel besser können als wir.“ Und tatsächlich: Netflix hatte nachweislich mehr Klicks als das Staatstheater. „Ich weiß auch nicht warum“, schmunzelt Kevin selbstironisch.


 



ERÖFFNUNG


OPENING.EXE

SAMSTAG, 29. OKTOBER, 10 UHR

EINTRITT FREI


ERSTE PREMIEREN


„OFFLINE“

SAMSTAG, 29. OKTOBER, 15 UHR (TICKETS)


„DIE VIER NEUEN JAHRESZEITEN“

SAMSTAG, 26. NOVEMBER, 20 UHR (TICKETS)


„14 TAGE KRIEG“

DONNERSTAG, 5. JANUAR, 20 UHR (TICKETS)


EXERZIERHALLE

LINKER FLÜGEL

26121 OLDENBURG


 

Ja-Wort vorm Standesamt


Der Technical Ballroom bietet nun endlich die Möglichkeiten und Ressourcen, Theater und Digitalität ganz neu zu denken. Seinen Anfang nahm er aber nicht etwa in einem Online-Meeting, sondern ganz analog - und geradezu romantisch - vor den historischen Kulissen am Pferdemarkt. „Wie haben uns eines Samstags auf dem Wochenmarkt getroffen und uns mit einem Kaffee vor das Standesamt gesetzt“, erzählt Jonas von diesem Moment und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ich hab Kevin das Konzept erklärt und ihm tief in die Augen geschaut - und er hat Ja gesagt!“ Man spürt hier, wie auch während unseres gesamten Gesprächs, wie viel Spaß die beiden am gemeinsamen Projekt haben - auch wenn es für sie eine enorme Zusatzbelastung bedeutet.


Kevins „Ja“ kam natürlich nicht von ungefähr. Als Absolvent der Otto Falckenberg Schule in München gehört er zu den ambitionierten und bisweilen experimentellen Vertretern seiner Zunft. Zu erkennen ist das etwa bei seiner Abschlussarbeit „Saal 600, einem dokumentarischen Musiktheater-Projekt über die Nürnberger Prozesse, das auch Jonas sehr schätzt. Oldenburger:innen sind seiner Probierfreude aber vielleicht auch schon begegnet, denn Kevin zeichnet u.a. für die Regie von „Maria Stuart“ verantwortlich - und verband den klassischen Stoff mit Elementen eines Graphic Novels. Das Ergebnis war überaus spannend.


Einen entscheidenen Impuls für das Projekt hat aber auch eine Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes gegeben. Nicht zum ersten Mal beschleicht uns das Gefühl, dass ausgerechnet in der größten kulturellen Krise der letzten achtzig Jahre die Förderung genau so aussah, wie sie vielleicht immer sein sollte: mutig, vertrauensvoll, unkompliziert. Die Idee des Technical Ballroom stieß in Berlin jedenfalls auf große Begeisterung und konnte eine erhebliche Unterstützung erzielen.




Digitaler Schweinsgalopp Eine gute Grundidee reicht aber natürlich nicht, wenn man ein halbes Jahr die Zukunft des Theaters durchspielen möchte. Der riesige Themenkomplex Digitalität wollte übersetzt werden in attraktive Theaterformate. Als inhaltliche Inspirationsquelle diente Jonas und Kevin ein Buch über digitale Ethik, in dem sich einige Ethiker:innen an der digitalen Revolution abarbeiten. „Mit deren Themen waren wir absolut d'Accord und haben darauf unseren Spielplan aufgebaut“, blickt Kevin zurück. „In den knapp sieben Monaten, in denen der Technical Ballroom geöffnet ist, geht es gewissermaßen im Schweinsgalopp durch die Digitalität.“ Die Themen klingen zwar nach einer Art „Buzzword-Bingo“, aber so ist es halt, wenn man sich mit Zeitgeist und Zukunft beschäftigt. Dann geht es eben um Gamification, Augmented Reality, Deep Fakes, Digital Natives und Artificial Intelligence.


Macht den Auftakt: Das Stück „Offline“ ist ab dem 29. Oktober zu sehen (Montage: Technical Ballroom)

„Wichtig ist uns, dass wir hier keine digitale Kunst machen“, betont Jonas. „Wir produzieren nichts, das wir ins Netz streamen, wo man sich das dann anschauen kann.“ Im Gegenteil: Zum Wesen des Ballroom gehöre es, dass die Menschen in die Exerzierhalle kommen, sich dort begegnen und gemeinsam mit der Technik auseinandersetzen.


„Das ist uns wichtig“, stimmt Kevin zu. „Hier im Saal muss man sich verhalten: Ich finde den Abend scheiße? Dann stehe ich auf und gehe. Das ist ein politischer Akt. Andere denken dann aber: Ich finde den Abend geil! Und die klatschen dann umso lauter!“ Danach könne man sich an der Bar treffen, ein Bier oder eine Limo trinken und drüber reden. Das ließe sich in Chats und Calls beim besten Willen nicht reproduzieren.



Ein Netzwerk der Netzwerke


Das Internet sei ja ein großes Netzwerk, erinnert Jonas, aber der Ballroom sei auch eines: „Wir haben Kontakte in der ganzen Stadt geknüpft und viele Kooperationen aufgebaut: Mit der IHJO, mit OFFIS, mit dem Department für Informatik der Universität“, zählt er auf. Gerade im Bereich der Artificial Intelligence gebe es enorme Kompetenzen in Oldenburg. Seit Mitte Juli gibt auch eine Niederlassung des Deutschen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz (DFKI). „Oldenburg ist viel mehr als Pferdemarkt und Grünkohl, das muss man sich immer wieder bewusst machen.“ Das theatralische Know-how kommt also von Kevin und Jonas, die technologische Expertise von starken Partner:innen in der ganzen Stadt.


Aber auch innerhalb des Staatstheaters wurde eine Art Netzwerk aufgebaut. „Alle waren von Anfang an offen für unsere Idee“, freut sich Kevin auch heute noch. So wurde der Ballroom zu einem echten Kollaborationsprojekt. “Wir haben sieben Sparten, wie Oper, Schauspiel, Ballet. Die bringen praktisch alle etwas ein und wagen gemeinsam den Sprung in die Digitalität.“


Das sei aber keineswegs als Absage an das traditionelle Theater zu verstehen. Das Staatstheater werde weiterhin einen Kulturkanon um Schiller, Shakespeare und Goethe repetieren. „Ich persönlich habe aber kein Interesse daran, Schiller jetzt mit digitalen Medien zu erzählen“, gewährt der junge Regisseur einen Einblick. „Dafür gibt es viel zu viele Stoffe und Materialien, die ich selbst zum Thema eines Abends machen kann!“ Genau das ist auch am Programm des Technical Ballroom zu erkennen - aber dazu kommen wir später.



Beim Technical Ballroom wimmelt es nur so von Zeitgeist-Terminologie und Internet-Buzzwords; da verliert man schnell den Überblick. Für alle älteren Semester, aber auch für junge Menschen ohne großes Faible fürs Digitale haben wir hier den TECHNICAL DUDEN zusammengestellt: ein kleines Wörterbuch der wichtigsten Begriffe.


 


ARTIFICIAL INTELLIGENCE

ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit der Automatisierung intelligenten Verhaltens und dem maschinellen Lernen beschäftigt. Mit AI bzw. KI sind selbstlernende Systeme gemeint, die Entscheidungswege eines Menschen nachbilden und auf diese Weise auch komplexe Probleme eigenständig bearbeiten können. Davon zu unterscheiden ist nachgeahmte Intelligenz, die durch einfache Algorithmen intelligentes Verhalten nur simuliert.


AUGMENTED REALITY

ist eine Verbindung von realen und digitalen Elementen. In der Regel werden digitale Inhalte in eine reale Umgebung projiziert, z.B. über das Smartphone oder Smart Glasses. Der Durchbruch gelang dieser Technologie ab dem Jahr 2015 durch das Spiel „Pokemon Go“. Im Technical Ballroom ist sie insbesondere bei „Error 404“ ein Thema.


BINGE (-WATCHING)

beschreibt den digitalen Konsum in Massen, vor allem von Serienformaten auf Kanälen wie Netflix, Prime oder Disney+. Anders als im linearen Fernsehen stehen die meisten Serien mittlerweile in kompletten Staffeln jederzeit zur Verfügung. Man kann also - mit etwas Kondition - mehrere Stunden Serie hintereinander weggucken. Und das machen auch viele.


DEEP FAKES

sind durch ➡️Artificial Intelligence möglich geworden. Früher konnten Fachleute über Bearbeitungssoftware wie Photoshop Bilder nach ihren Vorstellungen verändern. Heute kann jeder Laie anhand eines Portrait-Fotos sein Gesicht in Hollywoodfilme transferieren. Das Ergebnis wirkt täuschend echt - so als würde nicht Tom Cruise den waghalsigen Stunt machen, sondern Knut Meyer aus Etzhorn. Was amüsant klingt, hat aber erhebliche Risiken. Denn woher weiß ich, ob Nachrichten von politischer Brisanz bzw. deren Bildmaterial noch echt sind oder nicht?


DIGITAL NATIVES

sind diejenigen Menschen, die bereits mit dem Internet aufgewachsen sind. Da sich das World Wide Web ab Mitte der Neunziger hierzulande durchzusetzen begann, meint man damit die Jahrgänge ab diesem Zeitpunkt, sprich: von 1995 an aufwärts.



Pressekonferenz, Game Show oder Kneipenquiz? Der Ballroom-Kickoff im Co-Working-Space „Core“ am 7. Oktober war eine Mischung aus allem. (Bild: Kulturschnack)


GAMIFICATION

meint den Einsatz bestimmter Elemente oder Handlungsweisen in analogen Theaterformaten, die ursprünglich aus Computerspielen stammen. Beispiele dafür sind Highscores und Ranglisten, Erfahrungspunkte oder Aufträge/Quests/Missionen, die zu erfüllen sind. Genauso gehören zur Gamification aber auch User Interfaces, mit denen sonst eher gespielt wird - etwa die iPads, die bei „Offline“ zum Einsatz kommen.


IMMERSION

beschreibt einen Effekt, der durch eine ➡️Virtual Reality -Umgebung hervorgerufen werden kann. Durch das totale “Eintauchen“ in die künstliche Welt vergisst der User, dass er eigentlich illusorischen Stimuli ausgesetzt ist - uns zwar so weit, dass die virtuelle Umgebung als real empfunden wird.



LET'S PLAY

gab es eigentlich schon Mitte der Achtziger vor dem C64: Man schaute Freund:innen beim Spielen auf dem Computer zu. Damals aber meist mit der Absicht, möglichst schnell wieder selbst zu übernehmen. Heute läuft das Ganze digital ab. Online schauen Millionen Menschen z.B. auf ➡️Twitch anderen beim Gamen zu - nicht zuletzt, weil die Spiele selbst sehr viel zu zeigen oder zu erzählen haben. Weil das für die Hersteller Werbung ist, tolerieren sie auch Urheberrechtsverletzungen.


METAVERSE

ist zwar letztlich ➡️Virtual Reality, aber bedeutet eine Steigerung. Denn während normale VR-Projekte eher überschaubare virtuelle Welten abbilden, will das Metaverse schon dem Namen nach mehr sein. Es geht darum, ein ganzes Universum zu erschaffen, dem man - geht es z.B. nach Marc Zuckerberg - sein gesamtes reales Leben widmen könnte, weil es dort eben auch alles geben soll.


NFT

steht für Non-fungible Tokens. Diese etwa kryptische Beuchnung meint digitale Kunstwerke mit Einzigartigkeits-Zertifikat. Das Dilemma digitaler Kunst war immer ihre Reproduzierbarkeit; niemand konnte sie wirklich besitzen. Das hat sich mit den NFT geändert. So kann man zum Beispiel den ersten je programmierten Pacman kaufen und sein Eigentum nennen. Was man davon hat? Müssten die Käufer:innen erklären.


STREAMING

kennt seit den Lockdowns jeder. Dabei handelt es sich um die simple Übertragung analoger Ereignisse auf einen digitalen Kanal. So wurden damals plötzlich viele Theater- oder Konzertformate gestreamed. Das allerdings mit mittlerem Erfolg, das Live-Erlebnis ließ sich online nicht reproduzieren. Hat aber bei Vorträgen o.ä. nach wie vor eine hohe Bedeutung.


TWITCH

ist ein Online-Format für das ➡️Streaming von Games. Genauer gesagt kann man dort verfolgen, wie andere Menschen Spiele spielen, in der Regel selbst oder von anderen Gamern aus dem Off kommentiert. Einiges Vertreter:innen aus der Szene haben schon große Berühmtheit erlangt und genießen in Gamer-Kreisen eine Art Star-Status.


VIRTUAL REALITY

geht gewissermaßen einen Schritt weiter als die ➡️Augmented Reality, die Realität und Digitalität vermischt. Bei der Virtual Reality handelt es sich um komplett künstliche Welten, die vollständig im Computer erschaffen wurden. Sie sollen den Nutzer:innen aber das Gefühl vermitteln, sich durch eine echte Welt zu bewegen. Endergebnis wäre das ➡️Metaverse.


Kein Mittel zum Zweck


Holen wir erstmal kurz Luft und fassen zusammen: Der Technical Ballroom geht einen Schritt weiter, als alle anderen Projekte, die Theater und Digitalität bisher verbinden wollten. Es geht nicht darum, Theater digital abzubilden und es geht auch nicht darum, digitale Elemente ins analoge Theater zu holen. Stattdessen werden die beiden Handlungsstränge gleichberechtigt zusammengeführt und daraus ergibt sich etwas ganz Neues. Zwar werden auf der Bühne fünf großformatige Video Walls stehen und für das Publikum wurden 140 Tablets angeschafft. Sie sind aber nicht Mittel zum Zweck, sondern dienen als Digitalkulisse bzw. User Interfaces für partizipative Elemente. Digitalität ist also nicht nur Thema oder Tool, sie wird integraler Bestandteil des live-haftigen Theaterformats. Beides ist ohne das jeweils andere undenkbar. Und das ist womöglich wirklich: die Zukunft des Theaters - auch wenn man für diesen Gedanken den Baulärm in der Exerzierhalle mal kurz ausblenden muss.


„Für uns als Theater ist das natürlich Neuland“, ordnet Jonas das Projekt ein. „Wir können nicht einfach irgendwo anrufen und fragen: Wie habt ihr das gemacht? Weil es sowas noch gar nicht gibt!“ In der Tat läuft es eher andersrum, schildert der gebürtige Weimarer. So werden Regiestudierende der renommierten Universität Mozarteum Salzburg in den kommenden Monaten in Oldenburg hospitieren, weil der Technical Ballroom in seinem Bereich bisher einzigartig ist. Er genießt also Vorbildcharakter, bevor er überhaupt gestartet ist. Viel spricht allerdings dafür, dass diese Vorschusslorbeeren gerechtfertigt sind. Digitalität wird im Ballrom nämlich nicht abstrakt oder theoretisch gedacht, sondern geradezu mitreißend lebensnah. Unsere Prognose: Wer ein Smartphone besitzt, wird dort auf seine Kosten kommen. Und das sind nach unserer flüchtigen Recherche: alle.


Auf die Ohren: Jonas (links) und Kevin (rechts) waren Ende September auch bei unserem Podcast zu Gast. Das extrem unterhaltsame Gespräch könnt ihr hier nachhören.


Krimi, Klima, Krieg


Die erste Premiere am 29. Oktober ist zugleich programmatisch, vereint sie doch eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten auf sich. Die Rede ist von „Offline“, einem partizipatives Gamification-Format. Bitte was? Kevin erklärt: „Im Mittelpunkt der Handlung steht eine dreiköpfige Digital-Detektei. Bei einem besonders kniffligen Fall - ein Mädchen ist spurlos verschwunden - ist sie auf die Hilfe der Zuschauer:innen angewiesen.“ Mit den bereits erwähnten Tablets kann das Publikum die Protagonisten bei ihren Recherchen auf dem Smartphone der Vermissten unterstützen. Oder es begleitet eine Detektivin bei Nachforschungen im Stadtgebiet - mit GPS-Ortung und Livecam auf den riesigen Screens. „Offline fasst das Gesamtpaket des Ballroom gut zusammen“, findet Kevin. „Es ist interaktiv, partizipativ, es ist realtime - und es hat mit Menschen zu tun!“ Wir gestehen: Uns hat es total getriggert! Diese Form des Theaters hat man in Oldenburg noch nicht gesehen - und auch sonst kaum irgendwo. Lasst euch das nicht entgehen! (Karten)


Zuvor wird sich der Technical Ballroom unter dem Titel „Opening.exe“ dem Publikum übrigens vorstellen. Zwischen 10 und 13 Uhr darf ihn jeweils nur eine einzelne Person betreten und bekommt eine exklusive Führung - durch den Ballroom selbst. Das dauert zwar nur anderthalb Minuten, wird aber ein spektakuläre audiovisuelle Erfahrung sein, die das Publikum einstimmen wird auf sieben Monate mit einer Zeitmaschine.


Vier Jahreszeiten: Scientist Rebellion und Staatsorchester untersuchen gemeinsam, ob Vivaldis Klassiker noch korrekt ist. (Bild: Technical Ballroom)

Auch in den folgenden Wochen wird viel geboten. Ab dem 26. November nehmen „Die vier neuen Jahreszeiten“ Bezug auf die Oper von Antonio Vivaldi. Sie stammt aus dem Jahr 1725 und nach fast dreihundert Jahren drängte sich die Frage auf: Ist die Abfolge heute überhaupt noch aktuell? Hat der Klimawandel sie nicht längst verschoben? Mit Klängen des Oldenburgischen Staatsorchesters und Texten von Scientist Rebellion wirft der Technical Ballroom einen musikalisch-wissenschaftlichen Blick auf dieses Thema. Das Ergebnis: Eine wütende Konzert-Performance auf Basis von Klimadaten.


Nicht weniger spektakulär ist die Virtual Reality-Momentaufnahme „14 Tage Krieg“, dessen Titel man ab dem 5. Januar wörtlich nehmen darf - beziehungsweise: muss. Regieassistent Lukasz Lawicki war im Frühsommer 2022 tatsächlich für zwei Wochen in der Ukraine unterwegs, hat sich dort mit den Menschen über ihre Lage, Gedanken und Gefühle gesprochen und versucht, ihre Situation nachzuempfinden. Wir haben schon damals ausführlich (!) mit ihm über die Situation vor Ort und sein Projekt gesprochen. Noch bewegender dürfte aber das filmische Resultat sein. Nicht verpassen!


Ein besonderes Schmankerl verspricht zudem ein Nischenprojekt zu werden: „AI - Eine Stadt wird QR-tiert“ ist vermutlich die exklusivste Ausstellung aller Zeiten. Entwickelt wurde sie nämlich für eine einzige Person! Für wen? Für Dich! Und das geht so: Die Oldenburger:innen werden die Möglichkeit haben, über QR-Codes ihre jeweiligen Lieblings-Fotografien in eine Datenbank zu laden. Ob vom Hund, vom Urlaub, von der Stadt - das spielt keine Rolle. Diese Bilder werden dann in der digitalen Anstellung gezeigt. Aber: Wer sie ansehen will, muss zunächst auf einem Tablet drei Fragen beantworten. „Anhand der Antworten kuratiert ein Algorithmus für jeden die perfekte Ausstellung“, erklärt Jonas. Niemand sieht dieselben Bilder, die Auswahl und Anordnung wechselt mit den Antworten. Keine Frage: Das wird spannend - und einzigartig!



Niemand muss draußen bleiben


Und wer ist nun die Zielgruppe des Techcial Ballrooms? Der Untertitel lautet schließlich: „Theater für die Digital Natives". Das sind junge Menschen, die streamen, die gamen, die bingen. Heißt das im Umkehrschluss, dass vor dem Eingang ein Hinweisschild stehen wird: „Boomer müssen leider draußen bleiben“? Die beiden „Ballroomer“ lachen schallend. „Nein, auf keinen Fall“, gibt Kevin Entwarnung. Der Satz sei nicht mehr als eine schöne Polemik. „Natürlich ist es so, dass sich junge Zielgruppen durch unsere Inhalte am stärksten angesprochen fühlen. Das sind diejenigen, für die das alles gar kein Neuland ist, weil sie es längst tagtäglich nutzen.“


Was ist real? Ist Zeiten von Deep Fakes fällt die Antwort darauf schwer - unabhängig vom Alter (Montage: Technical Ballroom)

Gleichzeitig sei es für Ältere aber ja hochinteressant, in diese Welten einzutauchen. Selbst diejenigen, die bisher vielleicht komplett analog gelebt hätten, könnten hier auf ihre künstlerischen Kosten kommen. Zu welcher Alters- und Bevölkerungsgruppe man sich zähle, sei deshalb völlig unerheblich. „Insofern, liebe Oldenburger:innen, entscheidet einfach selbst, ob ihr Digital Natives seid - und kommt rein!“, lautet Kevins Appell. Vorwissen oder technisches Know-how brauche es dafür nicht, betont der gebürtige Oberhausener: „Ein guter Theaterabend erzählt sich von selbst. Wenn ich mir vorher die Zusammenfassung durchlesen muss, hat die Inszenierung was falsch gemacht.“ Niemand müsse was mitbringen - außer vielleicht eine gesunde Neugier.



Vorwärts in die die Zukunft


Nein, eine Zeitmaschine wird es so schnell nicht geben, falls überhaupt jemals. Deshalb sollten wir die Möglichkeiten nutzen, die der Idee einer Zeitreise zumindest nahe kommen. Der Technical Ballroom gehört eindeutig dazu. Das deutschlandweit einmalige Projekt zeigt uns schon heute, wie die Zukunft des Theaters aussehen könnte. Nämlich nicht als hilfloses Nebeneinander von analogen und digitalen Elementen, sondern als eine eigenständige Weiterentwicklung der tradierten Erzählformen.


Am Ende geht es nicht darum, was analog ist und was digital, was online passiert und was offline. Theater bewegte sich immer auf der Höhe der Zeit, reflektierte Weltgeschehen und Gesellschaft und genau das wird es auch weiterhin tun. Deshalb werden sich die Erzählformen vermischen und eine neue Normalität ergeben. Und dieses Szenario dürfen wir in Oldenburg jetzt schon sehen. Das darf man sich nicht entgehen lassen - ganz egal, ob man Digital Native oder Boomer ist! Und zur Beruhigung: Die Aufbauarbeiten in der Exerzierhalle sind inzwischen erledigt, der Montagelärm ist längst verstummt. Die Bühne ist bereit für die Zukunft des Theaters - bist du es auch?

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