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IN EINER ANDEREN WELT

Mit Sentient Picnic, der aktuellen Ausstellung im Edith-Russ-Haus für Medienkunst, schafft der indische Künstler Mochu innerhalb der Wände des Museums mit seinen Videoinstallationen ein ganzes Paralleluniversum, das einen voll und ganz verschlingt, mitnimmt auf einen psychedelischen Trip durch Internetkulturen und dabei immer wieder auch mit völlig neuen Realitäten konfrontiert.

Verzerrtes Bild einer Cartoon Katze
Hier verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion. BIld: Mochu, Cool Memories of Remote Gods, 2017 © Mochu

Es ist dunkel. Sehr dunkel. „Kino-dunkel“. Plötzlich: Menschen mit Delphinköpfen, die aus dem Nichts erscheinen, an einem Tisch sitzen und tief in die Augen der jeweiligen Betrachter blicken. Dann sind sie wieder verschwunden, so schnell wie sie erschienen sind. Geräusche, unterschwellig, stetig präsent, nicht klar zuzuordnen, die auf direktem Wege einem gekonnten Science-Fiction-, oder sogar Horrorfilm entspringen könnten. Dazu immer wieder Pop-Up-Fenster, die sich mit einzelnen Textnachrichten öffnen, digitale Fragmente, einzelne 3D-Renderings. Hier wird den Besucherinnen und Besuchern eine Geschichte erzählt.


Aber: welche?


Das Internet zwischen Utopie und Dystopie


Bei dieser surreal anmutenden, verbildlichten Welt des Internets handelt sich um das GROTESKKBASILISKK! MINERAL-MIXTAPE, einer Auftragsarbeit des Museums, die das zentrale Werk der Ausstellung bildet und – je länger man sich mit ihr beschäftigt – der eigentlichen Realität doch irgendwie immer ähnlicher wird.

„Das Internet ist nicht einfach ein Medium, das Wissen überträgt. Ich denke, dass es seine eigene Agenda mit sich bringt.“ - Mochu

Denn wenn wir genau überlegen: sind die ursprünglichen, damaligen Versprechungen des Internets von schönen und großen Idealen wie Freiheit, persönlicher Entfaltung, Kreativität und Demokratie bisher wirklich in Erfüllung gegangen? Oder sind sie inzwischen im Angesicht von einer Flut an Falschinformationen, Deep Fakes und imperialistischen Großkonzernen mit ebenso großen Machtfantasien, die große Teile der Infrastruktur des Internets für sich beanspruchen, bis zur Unkenntlichkeit deformiert?


Ein Bild aus einem surrealen Comic.
Reflexion von Online-Subkulturen. Bild: Mochu, GROTESKKBASILISKK! MINERAL MIXTAPE, 2022 © Mochu

Hier setzt Mochu mit seiner Videoinstallation an. Verfremdete Bollywood-Sounds, Memes, Martial-Arts-Spiele und mythologische Comics vermischen sich zu einer Reflexion eben genau dieser Online-Subkulturen, die in diesem Fall einem Fiebertraum, wenn nicht vielleicht sogar viel eher Albtraum gleichen und so in ihrer symbolischen Sprache und den aufgebauten Gefühlswelten kaum passender sein könnten.


 

MOCHU - "SENTIENT PICNIC"


BIS SONNTAG, 12. JUNI 2022

DI - FR 14.00 - 18.00 UHR

SA - SO 11.00 - 18.00 UHR


EDITH-RUSS-HAUS FÜR MEDIENKUNST

KATHARINENSTRASSE 23

26121 OLDENBURG

 


Im Kaninchenbau


Steigt man im weiteren Verlauf der Ausstellung die metallischen Treppen des Edith-Russ-Hauses hinab, auf dem Weg zu den weiteren Exponaten, fühlt es sich an, als sei dies erst der Anfang der angetretenen Reise und man falle wie einst Alice im Wunderland höchstpersönlich immer tiefer und tiefer und tiefer hinab in den Kaninchenbau.


Denn kaum hat man die Stufen hinter sich gelassen, ist man umgeben von einer Landschaft, einer Videoinstallation mit dem Titel Painted Diagram of a Future Voyage (Who believes the lens?), die immer wieder mit der eigentlichen Welt bricht und den Betrachter oder die Betrachterin umkreist. Es stellt sich die Frage, wer hier am Ende eigentlich wen betrachtet?


GIF einer abgefilmten Landschaftsprojektion über 3 Wände
Angekommen in einer anderen Welt. GIF: Kulturschnack

Die physikalischen Gesetze der Cartoons


Innerhalb dieser Landschaft führen die Besucherinnen und Besucher Abzweigungen zu abgedunkelten Räumen, in denen sich weitere Videoinstallationen finden und immer wieder auf neue Art und Weise mit der für Gewiss erachteten Idee der eigenen Realität spielen.


Zwei Personen stehen im Dunkeln und blicken herab in die Kamera. Eine Person trägt ein Shirt mit einem Meerschweinchen Gesicht drauf, die andere eines mit einem Kaninchen. Das Gesicht beider Personen ist dabei vollständig verdunkelt und nicht zu erkennen.
Bild: Mochu, Toy Vulcano, 2019 © Mochu

So nimmt die mehrkanälige Video-Lecture mit dem Titel Toy Volcano, zu deutsch Spielzeugvulkan, die Anwesenden mit in das Universum eines vergessenen Mangas und verbindet im Rahmen einer Fan-Fiction Outsider-Art und verdächtige Materialien mit der Physik von Cartoons. Die Erzählung folgt einem Beamten des Fremdenverkehrsamtes, der sich mit gefälschten Theorien über Außenseiterkunst, verdächtigen Materialien und mit der Physik von Karikaturen beschäftigt.


Man erwischt sich dabei selbst sein eigenes Wissen zu hinterfragen, wenn mit einer völligen Selbstverständlichkeit die Existenz portabler Löcher gerechtfertigt wird und, ganz wie bei einer akademischen Vorlesung an einer Universität, Cartoons der Looney Tunes als wissenschaftliche Basis fungieren oder gezeichnete Versionen der Beatles (ja, wirklich!) die Funktionsweise eben dieser Löcher anschaulich demonstrieren.


In Zeiten, in denen Verschwörungserzählungen florieren wie nie zu vor und Menschen Angst davor haben von einer Welt zu Fallen, die einer Scheibe gleicht, karikiert das Projekt diesen gesellschaftlichen Zustand förmlich und es wird erschreckend deutlich wie fragil wahrscheinlich doch das Realitätsempfinden eines jeden von uns letztlich sein kann.

ZUM KÜNSTLER


Mochu (*1983 in Indien) arbeitet mit Installationen, Vorträgen und Publikationen. Er war Stipendiat für Medienkunst der Stiftung Niedersachsen am Edith-Russ-Haus 2020. In seiner künstlerischen Praxis, die von Sachverhalten und Figuren der Kunstgeschichte und Philosophie geprägt ist, spielen technowissenschaftliche Fiktionen eine zentrale Rolle. Der Künstler lebt in Delhi und Istanbul.


Technologische Ernüchterung


Cool Memories of Remote Gods (Coole Erinnerungen an ferne Götter) hingegen spielt in den Überresten von Hippie-Pfaden Indiens und fühlt sich an, als werde man Teil einer leicht melancholisch anmutenden, archäologischen Erkundungsreise.


Denn über die 1-Kanal Videoinstallation, innerhalb eines Raums, der vollständig mit einer metallischen, spiegelnden Folie verkleidet ist, umgibt die Projektion die Betrachtenden vollständig und man steht inmitten der Überreste der Gegenkultur-Gruppen der 1960er Jahre.

Foto vor einem Spiegel, doch der Spiegel ist aus einer Art Alufolie, weshalb die Person nur schwer und verzerrt zu erkennen ist.
Spiegelbild im Parelleluniversum. Foto: Kulturschnack

Zu einer Zeit, in der Computer den Anspruch erhoben, dass Maschinenaktivität den Verstand ersetzen könnte, dachte die Gegenkultur darüber nach, ob sich religiöse oder mystische Erfahrungen auch mit technischen Hilfsmitteln, mit „inneren Technologien“, nachvollziehen ließen. Dieses erhoffte „Reich des Gleichgewichts“ wurde allerdings sukzessive auf psychedelische Poster, billige Kopien surrealistischer Gemälde und New Age-Fusion-Musik reduziert.

Müssen wir also grundlegend erkennen, dass nach dem technologischen „Rausch“, voller Euphorie auf das was uns alle in den kommenden Jahrzehnten erwarten würde, sich nun langsam immer weiter die Phase der Ernüchterung einstellt und die Versprechungen, die damals golden glänzten, heute doch einiges an Rost angesetzt haben?


All' diese Fragen trägt man auch im Anschluss an Sentient Picnic mit sich, denkt weiter über sie nach und versucht weiterhin dem in dieser Ausstellung Gesehenen auf den Grunde zu gehen. Denn anspruchsvolle Kunst mag keine leichte Kost und schon gar nicht immer auf den ersten Blick vollends verständlich sein. Doch das muss sie auch nicht und von einem Besuch einer solchen Ausstellung sollte einen das erst recht nicht abhalten.


Deshalb lautet das eindeutige Fazit: Sentient Picnic ist wahrlich ein „Trip“ in jeder Hinsicht, der mit den eigenen Wahrnehmungen zu spielen weiß und sich sowohl zu sehen, zu hören als auch zu erleben lohnt!

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