Kultur ist so alt wie die Menschheit. Schon immer haben wir nach Möglichkeiten gesucht, uns künstlerisch auszudrücken. Das gehört untrennbar zu unserem Wesen und unterscheidet uns von allen anderen. Doch nun werden erste Fragen gestellt, ob wir Kultur im herkömmlichen Sinne überhaupt noch brauchen. Schließlich schwinde ja das Publikum. Warum da einerseits was Wahres dran ist, andererseits die Schlussfolgerung aber grundverkehrt ist, erklären wir hier.
Es kam aus dem Nichts. Zwar berichten in diesen Monaten beinahe alle großen Leitmedien (wie auch wir) über die schwierige Lage der Kultur und zunehmend bekommen die entsprechenden Artikel eine pessimistische Färbung. Schließlich glaubten wir alle, mit dem Abklingen der Corona-Pandemie das Gröbste hinter uns zu haben. Doch weit gefehlt! Zum einen stellen wir fest, dass die Verwerfungen im Verhalten der Menschen größer sind als angenommen bzw. erhofft. Und zum anderen türmen sich neue Probleme auf. Nun aber wagte eine große deutsche Tageszeitung den nächsten Schritt: In einem Artikel vom 10. Oktober deutete sie das Ende der Kultur, wie wir sie kennen, zumindest an (siehe Kasten). Und das kam dann doch: aus dem Nichts.
Ist es wirklich so schlimm? Und falls ja, wie müsste unsere Reaktion darauf aussehen? Wir haben uns unabhängig davon mit Jinke Fanselau, Manuela Girgsdies und Ulli Bohmann von den Kulturgesichtern0441 getroffen, dabei aber auch über die aktuelle Lage gesprochen. Um es vorwegzunehmen: Schwarzmalen mochte niemand von ihnen. Dass die Lage schon wieder ernst ist, würde aber auch keiner abstreiten.
Irgendwas ist immer
Drehen wir die Zeit mal kurz zurück: Als ab Mitte 2020 die Corona-Hilfen anliefen, zeigte sich in der Praxis schnell, dass viele Menschen davon gar nicht profitieren konnten; tragischerweise vor allem jene, die am stärksten darauf angewiesen waren, nämlich die Solo-Selbständigen der Kulturbranche. Sie mussten sich erst selbst eine Stimme verleihen, um auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. Das passierte durch die Kulturgesichter.
Still wurde es nach der Phase der Lockdowns aber nicht ohne sie, sondern um sie. Als der enorme Bedarf an Unterstützung zurückging, traten die Kulturgesichter zeitweise etwas weniger offensiv in Erscheinung, blieben hinter den Kulissen aber aktiv im Gespräch mit allen relevanten „Stakeholdern“ des Kulturbetriebs. Was positiv ist, zeigt es doch, dass sich das Veranstaltungsgeschäft im Sommer zu normalisieren schien. Das ultimative Ziel des eigenen Handelns ist schließlich, sich nicht unverzichtbar sondern überflüssig zu machen. War das etwas erreicht?
„Nein, leider nicht“, berichtet Ulli mit spürbarem Frust in der Stimme. „Die Anfragen bei uns nehmen wieder zu. Die Akteure sind verunsichert.“ Obwohl die Entwicklung zwischenzeitlich stimmte, blieben Störgefühle niemals ganz aus - und nahmen unterschwellig immer weiter zu. An die Stelle von Corona rückten nahtlos die Kosten. Seit dem Frühjahr 2021 steigt die Inflation und erreichte zuletzt Rekordwerte um zehn Prozent. Und das sei noch nicht das Ende der Fahnenstange, warnen Ökonomen. Manche Menschen wissen aber schon jetzt nicht mehr, wie sie ihre Energierechnungen oder auch die täglichen Einkäufe finanzieren sollen. Und was streicht man dann im persönlichen Haushaltsbudget? Genau, das vermeintlich Verzichtbare, nämlich die Nahrung für den Geist. Bei dem merkt man es nämlich erst später, wenn er verhungert.
Konstant relevant
So weit soll es aber gar nicht kommen. Deshalb gewinnen fundierte Reaktionen an Bedeutung - und die Kulturgesichter sehen sich als Teil davon. „Wir suchen weiterhin unermüdlich den Dialog mit Politik und Verwaltung“, erklärt Manuela. „Ziel ist es, sich regelmäßig über die aktuelle Situation austauschen.“ Wichtig ist den Kulturgesichtern dabei auch der Kulturbegriff. Neben den öffentlich geförderten Einrichtungen gäbe es auch die Club- und Kneipenkultur, die sich mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sieht, aber ohne Zuschüsse auskommen muss. „Wir sollten auch an die vielen Menschen denken, die in diesem Bereich ihr Geld verdienen.“
EIN STÜCK AUS DEM TOLLHAUS Ein bemerkenswerte Frage warf die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel vom 10. Oktober auf. Unter dem Titel „Ein Stück aus dem Tollhaus“ setzte er sich mit einem vermeintlichen Bedeutungsverlust der Theater und der Kultur insgesamt auseinander. These: Immer weniger gehen hin, warum sollen wir sie dann noch subventionieren? Das hieße also: Die Menschen stimmen mit den Füßen ab, ob Kultur noch förderungswürdig ist oder nicht. Bleiben die Säle und Hallen weitgehend leer, schließen wir sie - und damit auch ein Kapitel der Menschheitsgeschichte. Einfach so, warum auch nicht? In diesen Kontext passt der Untertitel des Beitrags: „Bizarr: Wie Theater auf fehlendes Publikum reagieren“. Damit erreicht die SZ beinahe Bild-Niveau. Zwischen ausverkauft und abgesagt Erste Brüche in diesem Gedankenmodell zeigen sich aber bereits im Artikel. Auch die Süddeutsche wird nicht ganz schlau aus der aktuellen Lage, die zwischen ausverkauft und abgesagt pendelt. So gänzlich verzichtbar scheint die Kultur eben doch nicht zu sein. Ganz im Gegenteil, einer nicht geringen Zahl an Menschen bedeutet sie sehr viel. Und überhaupt: Was wäre das für eine Schlussfolgerung, dass man die Bedeutung der Kultur - dieser ältesten aller expressiven Ausdrucksformen - infrage stellt, nur weil Zeitgeist und vor allem Zeitgeschichte gerade negative Effekte auf die Nachfrage haben? Erstens ist die Kultur durch die Entwicklung der letzten zweieinhalb Jahre - Corona, Kosten, Krieg - bereits extrem belastet. Ihr aus diesem Grunde auch noch die öffentliche Unterstützung zu entziehen, wäre moralisch außerordentlich fragwürdig. Zweitens wäre eine angemessene Reaktion auf einen dauerhaften Besucher:innenrückgang nicht etwa Resignation, sondern Motivation. Es ist doch an Trägheit nicht zu überbieten, die aktuell ungünstige Entwicklung einfach so auf einen „Worst Case“ zulaufen zu lassen. Es war schließlich immer unbestritten, dass Kultur für unser gesellschaftliches Zusammenleben eine immense Bedeutung hat. Das gilt nach wie vor. Deshalb kann die Antwort nicht ein Abgesang sein. Stattdessen müssen wir die Kultur durch diese Phase bringen und anschließend nicht abwickeln, sondern wieder aufbauen. Potenziale gegen Pessimismus Die Stadt Oldenburg tut genau das durch eine Ausweitung ihrer Förderungen und dafür gebührt ihr große Anerkennung. Sie tut das aber auch mit dem Kulturschnack. Dieses Format soll dazu beitragen, eine größere Nähe zwischen dem Publikum und der Szene und ihren Akteuren herzustellen, es soll Kontexte aufzeigen und damit mehr Verständnis schaffen. Es soll die Kultur aber auch für künftige und weitere Bevölkerungsgruppen interessant machen. Denn schon bisher hat man nicht alle erreicht, da schlummern enorme Potenziale. Wir behaupten: Es gibt keinen Menschen, der sich nicht für Kultur begeistern ließe, wenn man es richtig anfängt. Apropos: Genau da sind wir gerade noch: am Anfang. Da kommt noch einiges. Von uns, aber auch von der Kultur. Sie stellt ihre Bedeutung für unsere kognitive und emotionale Lebensqualität täglich unter Beweis. Es liegt uns, was daraus wird. Natürlich ist nicht alles falsch in dem erwähnten Artikel. Manche These ist sogar ein Volltreffer - etwa jene, dass sich einige Häuser von der Breite des Publikums schon rein sprachlich ein Stück weit entfernt haben. Und davon abgesehen, darf man auch mal mit Zuspitzungen provozieren. Doch manches geht - in diesen sensiblen Zeiten - ein Stück zu weit. Auch wenn der Autor sich am Ende versöhnlich gibt:
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Dafür gibt es einen konkreten Anlass. Die Absagen von Konzerten nehmen in allen Bereichen wieder zu, andere laufen eher schlecht als recht. In Zuge dessen steigen auch die Anfragen bei den Kulturgesichtern. Sie übernehmen dabei wieder die Rolle des Netzwerks, des Multiplikators und der Interessenvertretung: Ersteres, um Probleme zu identifizieren, um Kontakte herzustellen und Austausch zu ermöglichen. Letzteres, um die Erkenntnisse aus diesem Prozess gebündelt an Entscheidungsträger:innen weiterzuspielen.
Man hoffe dabei auf Verständnis und Entgegenkommen, schließlich stehe viel auf dem Spiel: „Wenn wir die Kultur erhalten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Jobs bleiben können“, warnt Jinke. Sonst knipst beim nächsten Mal vielleicht niemand mehr das Licht an und die Boxen bleiben stumm - falls sie überhaupt jemand aufgestellt hat.
Der Blick geht aber auch in die Zukunft. Denn welcher junge Mensch wählt eine Karriere in einem Bereich, über dem das Damoklesschwert des plötzlichen Endes schwebt? „Die Jobs müssen für den Nachwuchs attraktiv sein“, stellt Manuela fest. Deshalb seien strukturelle Veränderungen nötig. Ähnliches gelte auch für öffentlichen Förderformate, die häufig unpassend, umständlich oder in der Szene gänzlich unbekannt seien. Gemeinsam - mit Politik, Verwaltung und einer Szene-Vertretung - könne man alles so entwickeln, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie hin soll. Und darum gehe es ja schließlich allen.
(Not so) Hidden Champion
Nun kann man natürlich zurecht darauf verweisen, dass die Kultur in den vergangenen Jahren enorme Summen an Unterstützung erhalten hat. Insbesondere über das „Neustart Kultur“-Programm - oder in geringerem Maße z.B. über „Niedersachsen dreht auf“ - flossen etliche Mittel in sinnvolle Projekte, wie wir in den vergangenen Monaten bereits vielfach festgestellt haben. Dem wäre aber hinzuzufügen: Natürlich ist das passiert!
Wir sprechen hier nicht von einer Kleckerbranche unterhalb der ökonomischen Wahrnehmungsschwelle, sondern von einem volkswirtschaftlichen Giganten. Die Kulturbranche beschäftigt 1,2 Mio. Menschen, ihre jährliche Bruttowertschöpfung liegt bei über 100 Milliarden Euro. Das ist mehr als die gesamte chemische Industrie oder die deutsche Energieversorgung.
„Über die sogenannte Umwegerentabiliät holt die Branche viele Gelder an ihren Standort, weil Kultur-Besucher:innen in der Regel auch Essen gehen und/oder übernachten“, weiß Ulli. Wem also die inhaltliche, kommunikative und emotionale Wirkung der Kultur noch nicht ausreicht, um sie ausreichend wertzuschätzen, kann beruhigt sein: Auch wirtschaftlich ist sie unverzichtbar.
Und trotzdem musste die Kultur in den letzten dreißig Monaten vieles aushalten. Das ist ihr gelungen, doch offensichtlich ist das Ganze noch nicht ausgestanden. Und denkt man aktuelle Tendenzen und die Thesen der SZ weiter, wird es nun tatsächlich existenziell.
Ging es bei den Lockdowns immer „nur“ um temporäre Beeinträchtigungen, wäre ein anhaltender Verhaltenswandel des Publikums ein weitaus größeres Problem. Eine Frage der Qualität scheint es jedenfalls nicht zu sein: Die Angebote der Oldenburger Kulkturszene sind gleichzeitig publikumsorientiert und inhaltsstark. An ihnen dürfte es nicht liegen, wenn die Resonanz fehlt. Doch woran dann?
Es gibt noch viele Fragen und Unsicherheiten, doch eines steht bereits fest: Es wird nicht ausreichen, allein monetär auf die aktuelle Situation zu reagieren. Was nützen üppige Budgets für große Produktionen, die niemand sieht? Die Bindung zwischen Kultur und Publikum gewinnt in diesen Zeiten immer weiter an Bedeutung. Offensichtlich müssen wir die Kultur - und vielleicht sogar das Ausgehen an sich - erst wieder in den Alltagen der Menschen verankern. Und dafür scheint ein Austausch, wie ihn die Kulturgesichter anstreben, tatsächlich ein sinnvolles Vorhaben zu sein.
Impulse und Initiativen
Die Kulturgesichter möchten aber nicht nur Ansprechpartner:innen sein, sie wollen auch Anstöße geben, um die Branche bzw. die Soloselbstständigen weiter zu professionalisieren. Deshalb bekommen auch Veranstaltungen einen hohe Bedeutung, die Wissen und Know-how transportieren. Wie etwa die Workshop-Tour von Musikland Niedersachsen, bei der Musiker:innen lernen können, ihre Selbstvermarktung auf ein neues Niveau zu heben. Sie gastiert auch hier in Oldenburg, unterstützt von den Kulturgesichtern.
(POP)SESSION
WORKSHOP-TOUR 2022
BUSINESS BASICS, STORYTELLING UND BRANDBUILDING FÜR MUSIKER:INNEN
SAMSTAG, 15. OKTOBER, 10 - 17 UHR (ANMELDUNG)
CORE OLDENBURG
HEILIGENGEISTSTRAßE 8
26122 OLDENBURG
Gemeinsam mit anderen Vereinigungen, mit denen man zum Teil im Oldenburger Portal vereint ist, wollen die Kulturgesichter weiterhin - oder jetzt erst Recht - für alle ansprechbar sein und der Kulturszene eine Stimme verleihen. Und zwar nicht nur, um aktuelle Probleme zu beseitigen, sondern auch, um eine nachhaltige Entwicklungen aufzuzeigen. Ullis Appell: “Lasst uns das zusammen tun. Lasst uns gemeinsam Oldenburg voranbringen!“ Die Frage sei nicht, ob man etwas für die Kultur und ihre Akteure tun müsse, sondern was. Und die Antwort auf diese Frage - die findet man am besten gemeinsam, sind die drei Kulturgesichter überzeugt.
Comeback oder Knockout?
Wie geht es weiter? Das weiß niemand. Keine einzige Krise der letzten zweieinhalb Jahre war auch nur ansatzweise vorauszusehen; zumindest nicht für Laien. Die Anzahl und Wirkungskraft dieser Ereignisse ist - vor allem in dieser Kombination - einzigartig. Wäre die deutsche Kultur eine Boxerin, würde sie gerade angeschlagen in die Ringseile taumeln. Die Frage ist: Was tun wir? Fächeln wir ihr in der Pause Luft zu, schließen die Cuts, geben ihr Wasser und motivieren sie für die nächste Runde? Oder werfen wir einfach das Handtuch?
Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten, aber letztlich stehen wir auch gesamtgesellschaftlich vor der großen Frage: Wollen wir Kultur? Oder geht's auch ohne? Unsere Antwort ist vollkommen klar. Und wir hoffen: Eure auch!
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