Seit Mitte 2020 schreibt Kulturschnacker Thorsten eine monatliche Kolumne für die wunderbare Theaterzeitung des Oldenburgischen Staatstheaters. Digital findet ihr sie zum Nachblättern unter www.staatstheater.de. Oder: hier.
Warum Anfänge in keine Schublade passen
Es gibt eine alte Regel für alle, die sich hin und wieder in Kolumnen äußern dürfen: Wenn es um Anfänge geht, muss man vorsichtig sein. Allzu leicht tappt mit in die Kitsch- & Klischee-Falle und schwärmt von einem Zauber, der zwar da sein mag, der aber längst nicht alles ist. Schließlich gibt es auch den emotionalen Gegenpol, nämlich die sprichwörtliche Schwere. Was denn nun, fragt man sich beinahe – und favorisiert gedanklich schon das neutrale Bild des leeren Blatts, das einfach nur auf Geschichten wartet, wovon auch immer sie handeln mögen.
Spätestens hier wird klar, warum es jene Regel gibt: Anfänge passen in keine philosophische Schublade. Zu vielschichtig sind sie in ihren Folgen und Wirkungen.
Sie bedeuten zum Beispiel Abschied, weil zuvor etwas geendet ist. Sie bedeuten Unsicherheit, weil etwas Neues sich stets erst bewähren muss. Sie bedeuten Möglichkeiten, weil nichts weitergehen muss wie zuvor. Sie bedeuten Hoffnungen, denn wer etwas Neues entwirft, möchte damit auch Reaktionen hervorrufen.
Üppige Angebote und offene Fragen
Das neue Team des Staatstheaters durchläuft gerade einen dieser Anfänge. Und es wird mir vielleicht zustimmen, wenn ich feststelle, dass es eine schaurig-schöne Erfahrung ist. Nehmen wir einfach die Entscheidung, mit welchem Stück man in die neue Spielzeit startet. Da gibt es natürlich einen unschuldigen Zauber, wenn es darum geht, aus dem üppigen Angebot einen Stoff auszuwählen, mit dem man sich selbst profilieren kann, der auch dem Haus Respekt zollt, und der vielleicht sogar in die große Theaterwelt hinausstrahlt. Schwer wird es aber in jenem Moment, wenn man anhand unzähliger offener Fragen spürt, welch ungeheuren Aufwand es bedeutet, in einer völlig neuen Konstellation ein solches Projekt zu realisieren.
Aber keine Sorge: Mit dem „Freischütz“ ist dem Staatstheater in jeder Hinsicht eine gute Wahl gelungen, auf die sich das Publikum unbedingt vorfreuen sollte.
An einem Anfang stehen aktuell übrigens auch die anderen Oldenburger Theater: Nach der Spielpause starten sie in die neue Spielzeit. Das Theater Laboratorium macht bei seinem neuen Stück „Die seltsamen Anwandlungen des Leonard Haslinger“ schon mit dem Titel neugierig. Ab dem 2. Oktober wissen wir, ob es das Zeug zum Klassiker hat. Im theater hof/19 läuft mit „Das letzte Geschenk“ ab dem 4. Oktober ein gesellschaftskritisches Stück, dessen Premiere erst in diesem Februar stattfand und das für viele deshalb noch neu sein dürfte. Und das theater wrede+? Dessen Claim des theater wrede+ lautet „Theater von Anfang an“. Auf die „Kleine Wolke“ freut sich ab dem 22. September deshalb das ganz junge Theaterpublikum ab zwei Jahren.
Der Neubeginn als Wesenskern
Apropos Publikum: Das steht ebenfalls an einem Anfang, vor allem mit Blick auf das Staatstheater. Anfänge sind nämlich immer zweiseitige Angelegenheiten. Schließlich löst alles, was man beginnt, Reaktionen aus. Beim Theater ist dieses Prinzip sogar der Wesenskern der eigenen Existenz. Nun muss das Publikum das alte Haus neu kennen lernen. Es gibt viel Neugier und Vorfreude, hier und da aber auch leise Zweifel und manche plagt womöglich noch Abschiedsschmerz. Zum Glück muss sich aber niemand entscheiden, ob der Zauber oder die Schwere überwiegt.
Als Bild taugt am besten tatsächlich das leere Blatt, das letztlich alle gemeinsam beschreiben: Theater, Publikum, Stadt. Und dieses Teamwork hat in Oldenburg noch immer bestens funktioniert.
Wenn es um Anfänge geht, muss man tatsächlich vorsichtig sein. Es ist gut, dass es diese Regel gibt. Sie verhindert, dass Menschen wie ich in Momenten wie diesen ins Schwärmen geraten – oder dass sie sich mit akribischem Eifer auf die verbliebenen Unklarheiten stürzen. Klar ist auf jeden Fall: Anfänge bewegen die Menschen. Und bei einem Intendanzwechsel nach zehn Jahren darf man für alle Beteiligten feststellen: Mehr Bewegung geht kaum. Es gibt all das, was ich oben erwähnt habe: Unsicherheiten, Möglichkeiten, Hoffnungen, Erwartungen. Trotzdem sollte man die neue Spielzeit nicht gleich überfrachten. Natürlich ist sie er Kristallisationspunkt für alles Neue. Letztlich bildet sie aber nur den Auftakt für eine mehrjährige Intendanz, die sich immer weiterentwickeln wird – und die in Zukunft bessere Bedingungen haben wird als in den vergangenen Monaten.
Wichtig ist: Oldenburg bekommt viele neue Ideen und Impulse. Davon können wir uns berühren und bewegen, irritieren und inspirieren lassen. Und ich behaupte: Dem wohnt tatsächlich ein Zauber inne! Sorry, aber so viel Kitsch und Klischee muss einfach sein.
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