Leerstand gehört zum Immobiliengeschäft. Jahrzehntelang galt dieses Prinzip, ohne dass sich jemand größere Gedanken über den ungenutzten Raum gemacht hätte. Das hat sich zuletzt deutlich geändert. Leerstehende Ladengeschäfte und andere Gebäude rücken zunehmend in den Fokus der Kultur. Sie bieten mehr als einfach nur Platz, nämlich auch ihre charakteristische Atmosphäre und neue Möglichkeiten.
Aus diesem Grunde existiert in Oldenburg seit 2020 die Vermittlungsagentur „Raum auf Zeit“. Sie hat es sich zum Ziel gemacht, ungenutzte Immobilien an Kulturakteure zu vermitteln. Die Anregung dazu kam vom Kulturausschuss, aufgebaut wurde sie von Michael Hagemeister. Seit einiger Zeit komplettieren Pia Wienholt und Verena Schweicher das Team. Wenn Sie demnächst also drei Personen in der Innenstadt antreffen, die sich einen Leerstand besonders genau anschauen, besteht kein Grund zur Sorge. Es handelt sich nicht etwa um die Gesandtschaft eines Immobilienhais, sondern um das Team von Raum auf Zeit - auf der Suche nach dem nächsten Kulturort mit Verfallsdatum.
Aber wie funktioniert das eigentlich ganz genau? Wie findet die Kultur ihre Quadratmeter? Darüber haben wir uns mit Michael ausführlich unterhalten. Was er gesagt hat, hört ihr in FOLGE 02 unseres Podcasts - oder lest ihr hier.
Fäden ziehen statt Saiten zupfen
Was Ihr im Podcast nicht hören könnt: Wie es sich anfühlt, die Agentur im Poly-Haus am Rande der Innenstadt zu besuchen. Ein Gedanke drängt sich dabei sofort auf: Der Ort passt. Dort, wo „Raum auf Zeit“ seinen Sitz hat, wurde jahrelang die Frage gestellt, was man mit dem Areal anfangen könnte. Das galt sowohl für das Gebäude selbst, als auch für die Grundstücke daneben, die bestenfalls den Charme eines Hinterhofs hatten. Heute ist das Poly-Haus längst etabliert, rechts davon schließen sich allmählich die Lücken, eines der größten und bekanntesten Street Art Kunstwerke Oldenburgs hat an diesem Ort seinen Platz. Keine Frage: Die Stadt verändert sich hier, demnächst ja auch direkt gegenüber - und das hat Symbolcharakter für das Team von „Raum auf Zeit“.
Michael ist hauptberuflich Kontrabassist im Orchester des Oldenburgischen Staatstheaters, daneben aber auch umtriebiger und bestens vernetzter Kulturmanager. Sein Name taucht zwar nicht überall auf, wo etwas Besonderes passiert - aber doch sehr oft. Und nun also: bei Raum auf Zeit. Wie kam es dazu? Welche Talente bringt er mit?
„Die Fähigkeiten am Bass waren es jedenfalls nicht“, lacht er. „In anderen Städten kümmern sich häufig Architekten um dieses Thema. Bei mir war wohl entscheidend, dass ich mit vielen Akteuren gut vernetzt bin - und dass ich ein Konzept eingereicht habe, das überzeugen konnte.“ Hilfreich sei zudem, wenn man ein Händchen für die Kulturszene habe. Dann könne man besser spüren, was jemand für sein Projekt brauche.
Kulturwissenschaftlerin Pia und Theaterpädagogin Verena profitieren ebenfalls von ihrer kulturellen DNA, bringen aber eigene Kompetenzen und Überzeugungen mit. Pia möchte Menschen dabei helfen, ihre Utopien zu verwirklichen und mehr Beteiligung und Miteinander möglich machen. Für Verena ist die Nutzung von Räumen auch eine Form des Auslebens. Sie ist sicher:
„Für Ideen brauchen wir Räume und Orte unterschiedlichster Art - weil auch die Menschen unterschiedlichste Visionen haben.“
Eine Idee setzt sich durch
Der Name „Raum auf Zeit“ war eigentlich nur ein Arbeitstitel. „Die Suche sollte noch weitergehen“, erinnert sich Michael zurück. Aber bekanntlich hält nichts so lange wie ein gutes Provisorium: „Irgendwann haben wir gemerkt: etwas Besseres finden wir gar nicht.“ Inzwischen ist auch die Abkürzung längst etabliert: RaZ. Das war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht geplant, erstmal sollte sich der volle Name etablieren. Aber: Spitznamen lassen sich eben nicht planen. Und wenn man einen hat, bedeutet das meist: Man ist angekommen.
Aber was macht Raum auf Zeit denn ganz konkret? Michael schafft es, die komplexe Aufgabe in einen einzigen Satz zu verpacken: "Wir vermitteln leerstehende Räume für eine kurze Zeit an Kulturschaffende, damit sie dort ihre Projekte realisieren können." Ziel sei es dabei, die Stadt zu beleben und zu entwickeln. Klingt simpel, doch man ahnt, dass diese Beschreibung maximal verknappt ist.
ZWISCHENNUTZUNG
IN SECHS EINFACHEN SCHRITTEN
ENTWICKELT EURE IDEE
GEHT AUF DIE WEBSITE WWW.RAZ-OL.DE
KLICKT AUF "MENÜ", DANN AUF "RÄUME SUCHEN"
FÜLLT DAS FORMULAR AUS
WARTET DIE RÜCKMELDUNG AB
SEID VORBEREITET UND FLEXIBEL
Eine Schwierigkeit besteht bereits darin, überhaupt Zugriff auf Räume zu bekommen. Dabei ist nicht etwa das Finden das Problem: "Wir gehen einfach durch die Innenstadt und schauen nach", beschreibt Michael den Prozess. So standen im März 2022 vierzig bis fünfzig Leerstände in der Innenstadt auf der RaZ-Liste. Manche werden für Nachmieter aufbereitet, andere warten auf die Genehmigung einer Nutzungsänderung oder eines Bauantrags. "Wir versuchen, in diese Lücken zu stoßen. Da, wo es uns gelungen ist, konnten wir die Räume meist drei Monate lang für Zwischennutzung gewinnen", erklärt der Kulturmanager.
Bis es soweit ist, braucht es aber viel Überzeugungsarbeit. Schließlich kann man von den Zwischennutzer*innen nur geringe Nutzungsentgelte erwarten, keine Mietzahlungen in den üblichen Größenordnungen. Daran müssen sich viele Eigentümer*innen erst gewöhnen. Aber wie ist die grundsätzliche Entwicklung? Setzt sich die Idee in Oldenburg durch? „Das würde ich schon sagen“, bilanziert Michael.
„Wir stehen in erster Linie in Kontakt mit Maklern. Da gibt es immer mehr, die uns kennen und die sagen: ‘Coole Sache! Wir finden gut, dass ihr das macht.‘ Auf die setzen wir bisher und hoffen, dass es noch mehr werden.“
Auch die Reaktionen der Eigentümer seien größtenteils positiv. Trotzdem gebe es noch Luft nach oben: „Ab und zu hören wir von den Maklern auch ‘Machen wir nicht‘. Die scheuen meist den Aufwand. Aber da versuchen wir, hartnäckig zu bleiben.“ Schließlich habe die Idee der Zwischennutzung für alle nur Vorteile.
Besuchermagnet Zwischennutzung
Genau das wurde auch deutlich bei „nutzen - Tag der kreativen Zwischennutzung“ am 25. Februar 2022: die erste Veranstaltung ihrer Art war ein voller Erfolg. „Wir waren richtig gut besucht. Bei den Vorträgen zum Thema war ein ganz junges Publikum - das man als Musiker im Staatstheater nicht so oft sieht“, erzählt Michael mit einem Schmunzeln. Kein Wunder: das Programm war hochkarätig und attraktiv, mit Gästen und Referenten aus München, Bremen und Hannover. Eine zentrale Rolle spielten aber auch reale Beispiele aus Oldenburg, wie etwa „Ein außergewöhnliche Ereignis“, das Freizeitlärm e.V. im September 2021 realisiert hat und das in der Techno-Szene einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Zu den Spielorten des Events gehörte neben der Langen Straße 74 auch die Staustraße 16, in Oldenburg besser bekannt als Photo Dose. „Dafür hat sich spontan das junge Künstlerkollektiv „einfach.nein“ zusammengefunden, Die haben sich dort einmal richtig ausgetobt“, berichtet Michael. Eine Frage drängt sich auf: Kann es sein, dass diese Räume bei den Nutzer*innen etwas triggern? Dass sie Neues überhaupt erst möglich machen? Und dass sie weniger eine Spielfläche sind, sondern vielmehr Teil des Kunstwerks werden? „Ja, auf jeden Fall“, ist Michael fest überzeugt. „Darauf lag unser Fokus anfangs gar nicht, es ging eher um den Platz an sich. Aber das ist ohne Zweifel immer wichtiger geworden.“
Aus Räumen werden Orte
Das Paradebeispiel dafür sei „Die Loge“ von Clara Kaiser und Mathilda Kochan. In allen Projekten, die sie bisher realisiert haben, hat der jeweilige Räume eine entscheidende Rolle gespielt. Für Hagemeister ist das eine Stärke der Zwischennutzung: Sie bietet eben nicht nur Fläche, sondern auch Möglichkeiten, mit der vorhandenen Situation in Interaktionen zu treten. Häufig werden die Räumlichkeiten Teil der künstlerischen Arbeit - und manchmal schmieden sich dabei neue Allianzen.
So war es bereits im Sommer 2020, als The Hidden Art Project seine erste Ausstellung im ehemaligen HEMA in der Haarenstraße realisierte. Idee und Initiative kamen damals von Sven Müller, Unterstützung bekam er zunächst nur von MACHWERK, dem Fonds für innovative Kulturprojekte. Doch das Projekt wuchs und kreierte trotz Corona eine enorme Sogwirkung. Heute ist „Hidden Art“ ein Aktivposten der Szene mit eigener Galerie im Lambertihof. Ganz klar: Ein Idealfall. Beispiele wie dieses bestärken Michael, Pia und Verena in ihrer Überzeugung:
„Die Gestaltung von Räumen, die Aufwertung von leerstehenden Ladenlokalen, wo Menschen einfach reinkommen und unerwartete Dinge erleben können, die sie im Alltag sonst nicht sehen - das kann ganz groß werden.“
Neu definiert: Der öffentliche Raum
Zu den Gedankenspielen um Zwischennutzung gehört auch das ‘Placemaking', also die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Früher waren damit die tatsächlich frei zugänglichen Bereiche gemeint. „Heute geht die Interpretation weiter“, weiß Michael. Die Erdgeschosse der Fußgängerzonen werden dazugezählt, weil sie dank ihrer Glasfassaden eben eine Erweiterung der öffentlichen Raumes sind. Das bringe auch die Aufgabe mit sich, diese Bereiche anders zu bespielen. Das berücksichtigt auch „Raum auf Zeit“:
„In der Zwischennutzung Lange Straße 74 haben wir regelmäßig Laufpublikum, das einfach mal reinschauen will“, zeigt Michael das Potenzial auf. „Es ist nicht so, dass alle immer nur von Shop A zu Shop B laufen. Die Leute flanieren und sind durchaus offen für Neues.“ Und diesen Momenten vielleicht sogar mehr als irgendwann sonst.
„Wir versuchen, solche Orte als öffentlichen Raum zu denken, wo man sich ohne Eintritt und ohne Konsum aufhalten kann“, sieht der Kulturmanager auch eine soziale Komponente. „Wir erleben immer wieder, welchen Wert das für die Leute hat: etwas entdecken zu können, was sie nicht erwartet haben.“
Die Rolle der Räume sei dabei nicht zu unterschätzen. Sie bieten nicht nur den nötigen Platz, sie inspirieren auch die Künstler*innen und lassen neue Kooperationen und Netzwerke entstehen. Etwas Entscheidendes käme noch dazu, weiß Michael: „Die Orte verändern sich, wenn Leute sich dort treffen. Dadurch, dass man dort was tut - und was man dort tut - verändert man den Raum. Dadurch wird er tatsächlich zu einem neuen Treffpunkt.“
Eine konkrete Vorstellung, wie die Stadt in Zukunft aussehen soll, existiert bei Raum auf Zeit jedoch nicht. „Man spricht ja davon, dass eine Stadt sich entwickelt. Ich glaube, dass wir alle dazu beitragen.“ Dass man die Gestaltung von Quartieren und Stadtteilen detailliert vorausplanen könne, glaubt er dagegen nicht. „Wir haben uns aber durchaus mit Ideen und Theorien der Stadtentwicklung beschäftigt und finden den Begriff der „kreativen Stadt“ sehr spannend. Für Menschen ist es wichtig, Orte zu haben, an denen es eine Kultur auf Augenhöhe gibt, also Street Level Culture.“ Ein zweites Schanzenviertel könne man in Oldenburg aber nicht einfach kreieren. Das müsse langfristig wachsen - und es gehöre auch dazu, dass sich die Kultur ihre Räume erobert. Orte bereitstellen funktioniere meist nicht, denn dann fehle es an Authentizität und Originalität.
BEISPIELE
BAUMGARTENSTRAßE 6
GASTSTRAßE 16
KAISERSTRAßE 12 KURWICKSTRAßE 11
KURWICKSTRAßE 31
LANGE STRAßE 74
SCHLOSSHÖFE
STAUSTRAßE 16
Zwischennutzung als Dauerlösung
Zwischennutzung, so viel ist schnell klar, ist mehr als das Füllen leerer Flächen, die Rolle der Kultur geht über die eines Lückenbüßers weit hinaus. Zumindest dann, wenn man es richtig anfängt. Genau das ist mit der Agentur „Raum auf Zeit“ gelungen. Michael, Pia und Verena übernehmen das mühevolle Suchen, Verhandeln, Vermitteln. Das hat zwar durchaus mal den Charme einer urbanen Schatzsuche, bedeutet aber meist viel Recherche und Organisation.
Die Kultur profitiert enorm von diesen zusätzlichen Möglichkeiten - und auch die Bevölkerung beginnt die Qualitäten der neuen Orte zu spüren. Paradoxerweise - oder folgerichtig? - war der Gang durch die Innenstadt nie abwechslungsreicher als jetzt, wo die Einkaufsmachine Innenstadt in einer Krise steckt. Doch solche Phasen waren schon immer Katalysatoren für Veränderungen und neue Möglichkeiten. Räume auf Zeit sind eine davon - und sie gehört zweifellos zu den attraktivsten.
Jeder Podcast-Gast darf bei uns einen Song zu unserer Playlist Die Mische beisteuern. Michael hat sich „I Wish I would know how“ von Ida Sand ausgesucht. Wahrscheinlich hat er den Titel häufig im Kopf, wenn er vor einer leerstehenden Immobilie steht, dessen Eigentümer*in unbekannt ist. Wie er klingt? Hört ihr hier:
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