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WER VISIONEN HAT...

...sollte zum Arzt gehen, lautete der Rat vom Altkanzler Helmut Schmidt an alle Menschen mit großen Ideen. Er orientierte sich eben lieber am Machbaren. Dabei ist der weite Blick nach vorn lebensnotwendig für uns. Das demonstriert in diesem September auch die Kulturetage mit ihrem passend betitelten Theaterstück „Visionen“. Warum man dafür nach Bookholzberg muss und warum sich die Anreise lohnt? Das erklären wir hier!


Epische Dimensionen auf und vor der Bühne: Die Stedingsehre in den 1930er Jahren. (Bild: Katharina Bosse / Thingstätten Projekt)

Eines ist von Anfang an klar: Alles ist anders. Normalerweise spielt das theater k seine Stück auf der eigenen Bühne in der Oldenburger Kulturetage. Doch dieses Mal könnte man dort lange warten, bis der Vorhang sich hebt. Nicht im urbanen Bahnhofsviertel finden die Aufführungen des Stücks „Visionen“ statt, sondern im beschaulichen Bookholzberg, etwa 25 Kilometer weiter östlich. Was führt die Kulturetage ausgerechnet an diesen Ort?


Es ist die Vergangenheit. Genauer gesagt: Das, was dort in den Jahren ab 1934 passierte. Das Gelände diente den Nationalsozialisten damals nämlich als sogenannte Thingstätte. Die Nazis schufen große Versammlungsorte, um dort massenwirksame Schauspiele aufzuführen, die den Zusammenhalt des deutschen Volkes beschwören sollte. Mit anderen Worten: Sie dienten der Propaganda. Und sie funktionierte hervorragend: 10.000 Personen schauten zu, wenn rund 300 Akteure auf einem eigens erbauten Dorfplatz samt Kirche und Bauernhäuschen agierten.





Die Geschichte des Geländes ist dadurch hoch belastet. Schließlich dienten die Aufführungen allein dem Ziel, die Bevölkerung im Kriegsfall moralisch wehrfähiger zu machen. Bekannt wurde dieser Ansatz als die Blut & Boden-Ideologie. Dennoch - oder deswegen? - ist es hoch interessant, dass sich so ein Ort in unmittelbarer Nachbarschaft befindet. Er ist gewissermaßen eine östliche Entsprechung zum ehemaligen Konzentrationslager Esterwegen, das keine 50 Kilometer westlich von Oldenburg entfernt liegt. Beide Orte provozieren Gedanken und Gefühle, die nicht gerade angenehm sind. Doch gerade das macht sie umso interessanter und wichtiger.


THINGSTÄTTEN


In den Jahren 1934 bis 1936 ließ die NSdAP im damaligen Deutschen Reich zahlreiche Thingstätten errichten. Damit griff sie die Idee germanischer Volksversammlungen („Thing“) auf. Etwa sechzig von ursprünglich mehr als 400 geplanten Freilichtbühnen wurden auch tatsächlich errichtet, unter ihnen die Stedingsehre in Bookholzberg, aber auch die Waldbühne in Berlin.


Waldbühne Berlin 1936: Größer als Bookholzberg, beim Aufbau aber mit großen Ähnlichkeiten (Bild: Katharina Bosse / Thingstätten Projekt)

All diese Orte hatten strukturelle und architektonische Gemeinsamkeiten. Wie damals üblich sprengten sie alle bisher bekannten Dimensionen, sollten also auch - ode vor allem - durch ihren pure Größe überzeugen. Joseph Goebbels bezeichnete sie einst als die „politischen Kirchen des Nationalsozialismus“.


Die Geschichte von vielen dieser Stätten geriet in der Nachkriegszeit - absichtlich oder nicht? - in Vergessenheit. In Berlin findet zwar eine kritische Auseinandersetzung mit der Waldbühne statt, bei der Vermarktung aber bestenfalls eine Nebenrolle („eine der schönsten Freilichtbühnen Europas“). Die Fragen, die sich zu diesen Orten stellen, sind überall dieselben: Wie gehen wir mit ihnen um? Wie kombinieren wir ihren durchaus vorhandenen Reiz mit einer angemessenen Aufarbeitung? Wie nutzen wir sie sinnvoll? Darf man sie überhaupt nutzen?


Waldbühne Berlin 2018: Pearl Jam spielen auf einer Nazi-Bühne. Ist das okay? (Bild: Thorsten Lange)

Warum der Ausbau der Thingstätten ab 1936 abrupt stoppte, ist nicht abschließend geklärt. Womöglich wurde Rohstoffe und Ressourcen bereits damals für „kriegswichtige Zwecke“ benötigt. Sogar der Begriff „Thing“ wurde per Erlass verboten. So waren diese Kultstätten nur eine kurze, aber eindrückliche Phase des Nationalsozialismus, die sinnbildlich für die vielfältigen Ausprägungen der national-sozialistischen Propaganda steht.


Auch heute gehört die Beeinflussung der Massen über die Kommunikation zum Portfolio jeder Diktatur und jedes Despoten. Wie gut sie auch heute funktioniert, erleben wir aktuell in Russland. Umso wichtiger erscheint es deshalb, historische Orte als Mahnmale und zur Aufklärung zu erhalten. Wo sonst sollte man Geschichte nicht nur sehen, sondern auch spüren?


Gras über der Sache


Die Stedingsehre befindet sich unweit des Bookholzbergers Bahnhofs am Ende einer unauffälligen Anliegerstraße ohne jegliche Beschilderung. Wenn die Existenz des Areals bislang ein Geheimnis war, dann aber ein ziemlich offenes: Das benachbarte Bildungswerk nutzt das Areal für Seminare, es gab Atelier- und Praxis-Nutzungen, auch kulturelle Veranstaltungen fanden dort statt.


Worüber allerdings durchaus - im wahrsten Sinne des Wortes - Gras wuchs, war die Geschichte der Stedingsehre. Erst ab 1992 fanden Interessengemeinschaften zusammen, um die Erinnerung zu bewahren. Inzwischen gibt es auch ein Informations- und Dokumentationszentrum, doch außerhalb Bookholzbergs ist die Existenz dieses Ortes nach wie vor weitgehend unbekannt - und ohne weiteres erschließt er sich vor Ort ebenfalls nicht.


Bahnhof in der Nachbarschaft, Parkplatz vor der Tür: Die Stedingsehre ist gut erschlossen (Karte: Openstreetmap)

Wenn man das Gelände betritt, muss man förmlich darauf reagieren. Und die ersten Reaktion ist überraschend, denn sie ist: positiv!? Man überquert eine kleine Brücke, sieht linker Hand einen Wasserlauf und geradeaus einige reetgedeckte Bauernhäuschen zwischen großen Bäumen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die langgezogenen Tribünen, die einst Platz für Tausende boten, auf denen nun aber Ziegen weiden. Ob man will oder nicht stellt man fest, dass dieser Ort einen romantischen Reiz hat. Es ist in einem traditionellen Sinne schön. Und sofort drängt sich eine Frage auf: Darf das so sein? Ist das okay?


Genau diese zweite, zusätzliche Ebene ist wichtig. Denn sie bedeutet eine aktive und intuitive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Und so viel sei verraten: Von solchen Momenten wird es auch bei den Aufführungen der „Visionen“ einige geben. Doch bereits an dieser Stelle kristallisiert sich das enorme Potenzial solcher Orte heraus. Keine theoretische Abhandlung und keine noch so gut gemachte Dokumentation erreichen das, was sie können: All unsere Sinne berühren. Und genau das erreicht auch die Kulturetage mit ihrem Theaterstück.


 

VISIONEN

EINE REISE IN DIE ALBTRÄUME DEUTSCHER LEID(T)KULTUR

1. SEPTEMBER BIS 18. SEPTEMBER 2022

DO, FR, SA - 19 UHR

SO - 18 UHR


STEDINGSEHRE BOOKHOLZBERG

JASMINSTRAßE 30

27777 GANDERKESEE



 

Zwischen Genuss und Gänsehaut

Historisches Plakat: Dieses Stück wurde gezeigt (Bild: Rethorn.de)

Wir treffen Malin Gloistein. Die 23-jährige Studentin der Medienpädagogik ist bereits seit 2018 für die Kulturetage aktiv und in diesem Jahr Produktionsleiterin der „Visionen“. Sie erinnert sich noch gut an ihre erste Begegnung mit dem Areal.


„Es ist schon spooky. Es sieht auch wie ein Lost Place: Da sind alte, ungenutzte Gebäude, alles ist überwuchert.“ Gleichzeitig wirke es auf gewisse Weise verwunschen. „Die Bauernhäuser auf der Bühne haben durchaus etwas märchenhaftes. Sie sind ja nicht authentisch, es ist ein Kulissendorf.“ Deshalb werde es - frei von Kontexten - auch für Spaziergänge oder sogar Foto-Shootings genutzt. Richtig genießen kann Malin all das aber nicht. Schließlich ließe sich der Hintergrund nicht einfach wegdenken:


„Man ist sich immer bewusst: Hier wurden Theaterstücke aufgeführt, die ideologisiert wurden und der Nazi-Propaganda dienten. Das macht es definitiv spooky - aber eben auch interessant und beeindruckend.“

Die Idee, etwas mit dem Gelände zu machen, kursiere schon länger, erinnert sich Malin. Der Impuls sei damals vom künstlerischen Leiter Bernt Wach und Bühnenbildner Bernhard Weber-Meinardus gekommen, die das Gelände bei einem sonntäglichen Spaziergang entdeckten. Die Kulturetage hatte immer schon ein Faible für besondere Orte, etwa das ehemalige Krankenhaus unterhalb des Flötenteichs. Auch in diesem Fall war schnell klar, dass hier eine theatralische Aufarbeitung förmlich passieren musste. So viel zum Potenzial gezielter Kontemplation!



Zurück in die Zukunft


Das Schwierige bei der Umsetzung: Alles an diesem Ort ist besonders. Dass er zunächst künstlich erschaffen wurde, also ein zweckmäßiges Konstrukt ist. Dass er genau dadurch aber zu einem „echten“ Ort mit eigener Geschichte wurde, nämlich zur historischen Thingstätte. Dass die Nationalsozialisten dort massenwirksam ihre Blut & Boden-Ideologie verankern wollten. Dass die Natur ihn zudem in einen parkähnlichen Lost Place verwandelte.


Mit einem simplen Schauspiel könne man alledem nicht gerecht werden, befand das Team der Kulturetage. Genau wie der Ort sollte auch die künstlerische Aufarbeitung mit den verschiedenen Ebenen spielen. Und ebenso wie die Realität sollte das Ende nicht der Abschluss sein, sondern der Anfang von etwas Neuem.


Idylle mit Patina und Ballast: Die Stedingsehre heute (Bilder: Kulturschnack)



Wichtig war dem Team um die Regisseure Markus Weiß und Ulf Georges dabei auch die faktische Ebene. Es gibt jetzt zwar das kleine Informationszentrum am Rande des Geländes, aber das Areal selbst ist nicht vollständig geschichtswissenschaftlich aufbereitet. Es ist solches gar nicht erkennbar. Springt die Kultur etwa für die Historiker:innen in die Bresche? In gewisser Weise schon, wie sich herausstellt: „Es ist nicht einfach ein Stück, das wir an diesem Ort aufführen. Es dreht sich sehr um diesen Ort und um den Fakt, dass seine Geschichte jahrzehntelang in Vergessenheit geraten ist“, beschreibt Malin den Inhalt, ohne dabei zu viel verraten zu wollen. Die Vergangenheit werde deshalb in Erinnerung gerufen und lasse dabei historische Personen auftreten - etwa den damaligen GAU-Leiters Carl Röver, einem vehementen Befürworter des Projekts.



Gedanken provozieren


Die andere Komponente des Stücks wechselt die Blickrichtung: „Dabei schauen wir in die Zukunft und stellen die Frage, was man mit so einem Gelände machen kann. Was kann gefährlich daran sein, dass es so eine Vergangenheit hat? Welche Rolle spielt das?“ Daher käme auch der Titel: Visionen. Es gehe auch darum, welche verrückte, wilde, spektakulären Ideen es geben könnte. Dabei würden die Linien zwischen Realität und Fiktion durchaus verwischt:


„Die Zuschauer:innen dürfen - und müssen - selber entscheiden, was davon realistisch ist und was nicht, was kritisch sein könnte und was man als Gesellschaft tun muss, damit Geschichte sich nicht wiederholt.“

Es gehe also nicht nur um Unterhaltung, sondern auch um eine gewisse Provokation. „Das hat im letzten Jahr wunderbar funktioniert. Es ist ein tolles Gefühl, wenn unser Ansatz wirkt und ankommt. “ Dabei spiele auch ein Rolle, dass man während der Vorstellung übers Gelände geht und verschiedene Häuser betritt, so dass die Erfahrung noch intensiver wird. Bei den zwölf Aufführungen können jeweils etwa hundert Zuschauer:innen teilnehmen. Die Gruppe wird jedoch phasenweise aufgeteilt, da in den kleinen Häuschen bestenfalls 25 Personen Platz finden. Später führen die Wege wieder zueinander.




Letzte Chance?


Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen im Laufe des Theaterabends. Was ist echt, was nicht? Die Antwort auf diese Frage wird nicht leichtfertig preisgegeben - und so kam es zum Ende bereits zu intensiven Reaktionen. „Von Bravo- bis Buh-Rufen war alles dabei", berichtet Malin. „Es ist eben kein Stoff, den man einfach nur konsumiert. Wir wollen die Reaktionen provozieren. Und die kommen auch.“ Wobei das „Buh!“ doch recht selten erschallt. Die allermeisten Gäste seien überrascht, bewegt, begeistert - und dankbar. „Tatsächlich kommen viele nach der Vorstellung zu uns und bedanken sich, dass wir die Geschichte dieses Ortes sichtbar(er) gemacht haben“, erzählt Malin.

Unvermeidbar: Die Nationalsozialisten werden auch im Stück eine Rolle spielen (Bild: Bernhard Weber-Meinardus)

Eine zusätzliche Dramatik bekommen die Aufführungen durch eine unvorhergesehene Entwicklung: Es könnten nämlich die letzten sein. Es gibt Gerüchte, das Gelände solle im kommenden Jahr an einen privaten Investor verkauft werden. Wer das ist und was er damit anfangen will? Unbekannt. Wie immer in solchen Fällen gibt es Befürchtungen, es könne sich um einen Strohmann für Akteure aus dem rechten Milieu handeln, doch über die Identität ist bisher nichts öffentlich bekannt.


„Wir rechnen damit, dass nach der aktuellen Spielzeit Schluss ist“ erklärt Malin. Derzeit spräche viel dafür, dass der Verkauf tatsächlich stattfinde oder bereits stattgefunden habe. Bis dahin hätten immerhin zwanzig Vorstellungen stattgefunden - acht im letzten und zwölf in diesem Jahr. „Natürlich würden wir uns wünschen, dass es weitergeht mit diesem Ort. So ist es bei Erinnerungsarbeit ja eigentlich immer.“ Wie genau das aussehen könne, müsse sich noch zeigen, vielleicht in Form einer größeren Bildungsstätte „Wir würden uns freuen, wenn die Besucher:innen nach dem Stück der gleichen Überzeugung sind wie wir: dass mit dem Gelände etwas Besonderes passieren muss und es der Allgemeinheit nicht entzogen werden darf!“



Wertvolle Visionen


Eines steht nach einem Besuch der Stedingsehre in Bookholzberg fest: Wer Visionen hat, sollte nicht zum Arzt gehen, sondern unter Leute - und mit ihnen diskutieren, interagieren, weiterdenken. Denn auch wenn das Machbare keine falsche Orientierung ist, brauchen wir auch große Ideen und Würfe. Deshalb sollten wir hin und wieder auch das Unerreichbare wagen - um entweder glorreich zu scheitern oder um zu entdecken, dass es eben doch erreichbar ist.


Auch davon erzählen die „Visionen“ der Kulturetage. Sie deuten an, welche Rolle die Kultur bei der Beantwortung gesellschaftlicher Fragestellungen - bzw. bei der Aufarbeitung historischer Kontexte - spielen kann. Geschichte erlebbar und spürbar zu machen, und dabei geographische und emotionale Bezüge herzustellen, ist eine Kunst für sich - die das Team des theater k offenbar bestens beherrscht. Wir widersprechen Altkanzlern nur ungern, aber diese Visionen sind kein Fall für den Arzt, sondern für die Allgemeinheit. Unbedingt hingehen!

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