KOLUMNE: DEN BALLAST ÜBER BORD
- Thorsten Lange
- 13. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Seit Mitte 2020 schreibt Kulturschnacker Thorsten eine monatliche Kolumne für die wunderbare Theaterzeitung des Oldenburgischen Staatstheaters. Digital findet ihr sie zum Nachblättern unter www.staatstheater.de. Oder: hier.

Lang ist es her. Die Erinnerung ist beinahe vollständig verblasst. Aber noch sind Bruchstücke vorhanden: einzelne Gedankenfetzen, die besser gespeichert sind als andere. Deshalb weiß ich noch, wie es sich anfühlte, als ich vor über dreißig Jahren meinen ersten Tanzkurs machte. Foxtrott, Walzer und Lambada – alles war dabei. Die vielen Tänze wurden allerdings nur so lange einstudiert, bis sie halbwegs koordiniert und weitgehend unfallfrei nachgestolpert werden konnten. Nach dem großen Abtanzball waren sie dann schnell wieder vergessen. Und ich gebe zu: Irgendwie war man froh, als das alles vorbei war.
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Heute frage ich mich: Warum eigentlich? Warum hat der Tanz es schwer, seinen Platz im Freizeitverhalten zu behaupten? Beziehungsweise: Ihn erstmal zu erkämpfen?
„Ich gehe heute zum Ballett“ ist nach wie vor einer jener Sätze, die beim Gegenüber spezielle Reaktionen erzeugen. Es gibt einige, die intuitiv begeistert sind. Und es gibt die anderen, deren Gesichtsausdruck am ehesten mit „Echt jetzt?" zu umschreiben ist. Tanz scheint als Kunstform für viele Menschen unzugänglicher zu sein als etwa Schauspiel und Konzert. Dabei ist es doch eine der ältesten Ausdrucksformen der Menschheit, tief in unseren Genen verankert. Doch es gibt eine gute Nachricht: Wer sich bisher noch nicht für die Kunst der Bewegung begeistern konnte, hat in den kommenden Tagen die perfekte Chance, sein Urteil zu revidieren – bei den 16. Internationalen Tanztagen.

Ereignis für Eingeweihte?
Werbung müsste man dafür eigentlich nicht machen. Ganz im Gegenteil: Eigentlich müsste man die Tanztage verheimlichen. Die Kartennachfrage ist immer extrem groß, manche Kontingente sind bereits Monate im Voraus vergriffen. Es gibt also genügend Menschen, die durchaus einschätzen können, was ihnen geboten wird. Und so viel sei verraten: Das ist auch in diesem Jahr eine ganze Menge. Dennoch gibt es sie: Die Werbung für die Tanztage. Warum? Eben weil sich besagte Schere im Publikum auftut. Tanz löst entweder riesige Begeisterung aus - oder gähnendes Desinteresse. Es geht hier um einen Zugang zu etwas, das tatsächlich eine inspirierende, mitreißende Erfahrung sein kann, das man sich aber zunächst erschließen muss. Am besten: Durch einen unvoreingenommenen Selbstversuch. Und den sollten all jene wagen, die nicht schon längst Tanzfans seid - und dafür gibt es keinen besseren Moment als jetzt.
Die Tanztage komprimieren die internationale Szene auf zehn prall gefüllte Tage, denen man zweifellos Festivalcharakter attestieren kann. Ensembles aus der ganzen Welt kommen an die Hunte, und zeigen hier die gesamte Bandbreite des zeitgemäßen Tanzes. Da vermischen sich Ansätze, Stile, Themen, aber durchaus auch Ansichten und Überzeugungen zu einem funkelnden Kaleidoskop. Und das alles natürlich: auf höchstem Niveau.
Eine Stadt pulsiert
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Während der Tanztage fühlt sich Oldenburg ein wenig größer an als es ist. Man hat das Gefühl, bei etwas Einzigartigem dabei zu sein, das in mindestens zweifacher Weise mitreißend ist: Wegen der Performances auf der Bühne - aber auch wegen des internationalen Vibes. Beides sorgt dafür, dass die Stadt merklich pulsiert. Und etwas anderes ist bei den Tanztagen ebenfalls zu spüren: Wie cool das alles ist! Tanz, so viel wird schnell klar, ist keineswegs nur etwas für Eingeweihte. Die Grenzen etwa zur Hip Hop- und TikTok-Kultur sind fließend. Und sowieso handelt es sich bei den Protagonist:innen auf der Bühne um junge, talentierte Menschen, die echte Freude daran haben, das Publikum zu begeistern - und die dankbar sind für den meist tosenden Applaus.
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Den hätte ich für meine Darbietungen im Tanzkurs vor über dreißig Jahren sicher nicht bekommen – diese Erinnerung ist keineswegs verblasst, sondern sehr gut gespeichert. Für diese Form der Bewegung war ich leider nur begrenzt talentiert und bin stattdessen lieber vor Konzertbühnen rumgehampelt. Um die Qualität der eigenen Bemühungen geht es aber gar nicht. Man muss nicht ausgezeichnet tanzen können, um Freude daran zu haben, anderen dabei zuzuschauen, wie sie ihren Körper gleichzeitig kraftvoll und poetisch einsetzen. Werfen wir also den ganzen Ballast über Bord, den wir vielleicht noch mit uns herumschleppen, wenn es um das Thema Tanz geht. Einfach mal ausprobieren und einlassen, beobachten und bewundern. Dann ist Tanz das, was er immer war: ein Ausdruck der Freude - auch fürs Publikum!Â