top of page

NOCH MEHR NEULAND

Nein, keine Sorge, wir sprechen hier nicht von der aufregenden Reise ins Internet, die für manche von uns immer noch sehr neu und ungewohnt ist, da es sich ja vor gerade erst dreißig Jahren durchgesetzt hat. Ein Wimpernschlag! Aber nein, dieses „Neuland“ ist ganz anders, nämlich vollkommen analog und artistisch: Das gleichnamige Festival stand nämlich in den letzten Sommern für traditionelle Zirkus-Künste wie Akrobatik, Jonglage oder Magie, aber mit zeitgenössischem Akzent. Genau das wird nun auch im „Winter Varieté“ zu sehen sein. Ist das hoffnungslos veraltet - oder voll auf der Höhe der Zeit?


Altmodisch? Ganz und gar nicht! Das Winter Varieté bringt große Traditionen in die Gegenwart. (Bild: Tridiculous)

Zuerst eine gute Nachricht: Manche Dinge kommen nie aus der Mode. Sie können zu absolut jeder Zeit atemberaubend sein, weil sie für sich selbst eine Kunst sind - unabhängig vom jeweiligen zeitlichen Kontext. Während zum Beispiel Musik und Film durchaus outdated wirken können (bevor das nächste Revival kommt), ist vor allem Körperkunst angenehm zeitlos: Tanz oder Akrobatik üben einen eigenen Reiz aus - egal, wann sie entstanden sind.


Dieses Prinzip werden wir auch beim „Winter Varieté“ in der Kulturetage erleben dürfen. Rein begrifflich mag das Format etwas anachronistisch wirken. Die Bezeichnung war im 19. und 20. Jahrhundert jedenfalls deutlich geläufiger als heute. Und auch die Zirkuskünste haben bereits einige Epochen erlebt. Aber: Eben nicht nur das. Sie haben jede große Zeitenwende auch unbeschadet überstanden. Und das lag nicht etwa daran, dass sie sich immer schnell angepasst hätten - sondern daran, dass sie genau das nicht taten. Das mussten sie nicht, denn: Manche Dinge sind zeitlos - und kommen deshalb nie aus der Mode.


 

NEULAND PRÄSENTIERT:

WINTER-VARIETÉ

MITTWOCH, 7. DEZEMBER, 20 UHR (TICKETS) DONNERSTAG, 8. DEZEMBER, 20 UHR (TICKETS) FREITAG, 9. DEZEMBER, 20 UHR (AUSVERKAUFT) KULTURETAGE OLDENBURG BAHNHOFSTRAßE 11

26122 OLDENBURG

 


Von wegen altmodisch


Das Winter Varieté tritt den Beweis dafür an. Es stützt sich zwar auf ein altes Grundprinzip, übersetzt es aber in die Gegenwart. Dadurch gelingt schon konzeptionell ein kleines Kunststück: Nämlich den Bogen in die Geschichte zu schlagen und die Traditionen sogar zu betonen, dabei aber ganz und gar nicht altmodisch zu wirken, sondern - im Gegenteil - hochaktuell.

Ganz easy? Was bei den Künstler:innen geradezu leicht aussieht, ist in Wahrheit höchst anspruchsvoll. (Bild: Majorie Nantel)

Die Besucher:innen werden also eine doppelte Erfahrung haben, nämlich gleichzeitig das Alte und das Neue erleben und genießen zu können. Ein bemerkenswerter Spagat - vor allem deshalb, weil er mühelos zu gelingen scheint.



Kunst mit Körpern


Und was genau wird geboten? Man könnte sagen: Eigentlich genau das, was man beim Begriff „Varieté“ intuitiv erwarten würde. Eine bunte - im Sinne von: abwechslungsreiche - Mischung verschiedener Künste, die eine große Gemeinsamkeit haben: eine enorme Körperbeherrschung.


Ob es nun um Kraft, Dynamik, Präzision oder Feingefühl geht: Was die insgesamt neun internationalen Acts hier auf höchstem Niveau zeigen, lässt den Gästen immer wieder den Mund offen stehen. Während man selbst häufig schon Probleme dabei hat, halbwegs koordiniert vom Schreibtisch aufzustehen, wirbeln die Körper hier pfeilschnell oder federleicht durch die Luft als wäre das ganz easy. Oder sie agieren mit einem Fingerspitzengefühl, das wir nicht einmal aufbringen könnten, wenn wir all unsere Konzentration dafür aufbringen würden. Gerade im Wirbel der Vorweihnachtszeit ist dieses Erlebnis eine wunderbare Sinneserfahrung.


WAS IST VARIETÉ?


Varieté ist Theater mit bunt wechselndem, unterhaltendem Programm, artistischen, akrobatischen, tänzerischen, musikalischen o. ä. Darbietungen. Ein Varietéprogramm besteht aus einer kleineren oder größeren Anzahl von Darbietungen, die für die gemeinsame Veranstaltung mosaikartig zusammengesetzt werden, wobei jede für sich eine künstlerisch geschlossene Einheit mit Anfang und Ende bildet.


Das Varieté ist mit dem Theater und dem Zirkus verwandt, ohne mit einem von beiden identisch zu sein. Im Gegensatz zum Theater bedarf es keiner organisierten dramatischen Handlung und außer der Bühne haben die beiden Formen wenig miteinander gemein. Es liegt mit dem Grundprinzip „Einheit der Vielfalt“ dem Zirkus näher. Dieser fügt gleichfalls Darbietungen, die sich in Form, Inhalt und Charakter unterscheiden, zu einem sinnvollen Ganzen zusammen


 

Wie man auf so etwas kommt und den Mut aufbringt, es in diesen Dimensionen - an drei aufeinanderfolgenden Abenden - auch umzusetzen? Das haben wir Andreas Bartl vom Kultur Perspektiven e.V. gefragt, der das Winter-Varieté realisiert. Im Gespräch erklärt er, was der Reiz am Programm ist - und warum es nicht nur in diese Zeit passt, sondern sogar genau das Richtige für sie ist.



Andreas, die Bezeichnung „Varieté“ hört man im 21. Jahrhundert nicht mehr oft, Künste wie Akrobatik, Jonglage und Magie haben lange Traditionen. Auf was darf sich das Publikum einstellen? Pure Nostalgie? Oder gibt es einen Twist in Richtung Gegenwart?


Allein der Verband Deutscher Varieté Theater vertritt 25 größtenteils dauerhafte Veranstaltungshäuser, wobei die vielen temporären Dinnershows u.a. in Spiegelzelten sowie zahlreiche Einzelveranstaltungen, die unter dem Namen Varieté bis heute in den unterschiedlichsten Kulturstätten bundesweit ein zahlreiches Publikum finden, noch gar nicht mitgezählt sind. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass die einleitende Behauptung weniger die Realität der deutschen Kulturlandschaft spiegelt, als die Tendenz des aktuellen Kulturdiskurses, jede künstlerische Ausdrucksform zu disqualifizieren, der der Geruch des kommerziellen Erfolgs oder gar der finanziellen Eigenständigkeit anhaftet.


Was uns betrifft, so verbinden wir weder mit dem Genre Nostalgie noch zielen wir mit unserer Programmauswahl auf Althergebrachtes. Vielmehr präsentieren wir zeitgemäße und hochklassige Darbietungen von einem international renommierten Cast und laden unser Publikum zu einem unterhaltsamen Abend mit berührenden, überraschenden und beeindruckenden Momenten ein – zu einem Fest der Artistik.


Die Kunst der Bewegung: Einfach zusehen und staunen - zuhause aber besser nicht selbst versuchen! (Bild: Duo LéOlé)

In den letzten beiden Sommern lief „Neuland“ unter freiem Himmel und in einem Zirkuszelt. Viele Oldenburger:innen werden sich noch gerne daran zurückerinnern. Das war eine sehr spezielle Atmosphäre. Kann man das einfach so nach drinnen übertragen?


Nein, das kann man natürlich nicht. Aber das ist auch nicht das Ziel. Die hauptsächliche Verbindung zwischen den beiden Veranstaltungen ist das Organisationsteam und der Ehrgeiz, dem Publikum ein hochwertiges artistisches Programm zu bieten. Das „Neuland - Festival der zeitgenössischen Artistik“ legt dabei den Fokus auf zeitgemäße, abendfüllende, konzeptionelle Circus-Stücke, die bewusst das vor allem in Deutschland immer noch beinahe unumgängliche Klischee: „Menschen, Tiere, Sensationen!“ nicht bedienen, sondern Artistik in ihrem vollen Potenzial als eigenständige Kunstform in seiner ganzen Vielfalt einem breiten Publikum präsentieren.


Freiluftbühnen und Zelte eignen sich neben Theatern oder multifunktionalen Kulturstätten gerade im Sommer als attraktive Spielstätten mit grundsätzlich sehr niederschwelligem Zugang für alle möglichen Zuschauer:innen. Im Gegensatz dazu stehen im diesjährigen Wintervarieté Nummernformate im Mittelpunkt, die man landläufig eher mit dem klassischen Circus-Stereotyp assoziiert. In unserem Programm wollen wir zeigen, dass sich auch das Varieté nicht in tradierten Rollenbildern, altbackenem Humor und überholten Ästhetiken erschöpft, sondern durch frische Ansätze, aktuelle Sensibilität und künstlerische Virtuosität eine gewissermaßen zeitlose Form der anspruchsvollen Unterhaltung für Alt und Jung behaupten kann.



Eine andere Art der Körperbeherrschung, aber genauso faszinierend: Jonglieren erfordert viel Feingefühl, wie hier Fabian Flender zeigt. (Bild: Alex Koch)

Was sind eure Erfahrungen aus den letzten beiden Jahren? Wie kommt dieses - vermeintlich (!) anachronistische - Kulturangebot an? Was macht das mit den Menschen?


Wir freuen uns sehr über die durchweg positiven Rückmeldungen unserer Besucher:innen. Wie zu erwarten, kämpfen wir natürlich mit dem verknöcherten Bild, das sich viele Deutsche heutzutage von DEM Circus machen, ohne sich bewusst zu sein, dass sie ein Klischée reproduzieren, das sich in der Mantra-artig wiederholten Kombination von roter Nase, Sägespäne, Popcorn und allem, was DEN Circus vermeintlich ausmacht, historisch kaum belegen lässt.


Entsprechend häufig dürfen wir Zuschauer:innen, die uns in ihrer Verblüffung über die Art und Qualität der dargebotenen Stücke häufig mitteilen, dass das ja wohl kein Circus sei, versichern, dass sie sehr wohl einer Circusvorstellung beigewohnt haben, auch wenn dabei nicht die Stereotype bedient wurden, auf die sie gefasst waren. Das Bild DES Circus ist derzeit noch so stark im kollektiven Bewusstsein verankert, dass es noch einiger Bemühungen bedarf, um es endgültig ins Wanken zu bringen und die Kunstform Circus in ihrem vielfältigen Potenzial auch in Deutschland zu rehabilitieren. Mit unserer sorgfältigen kuratorischen Auswahl tragen wir hoffentlich unseren kleinen Teil dazu bei und freuen uns, erste Erfolge in einer veränderten Wahrnehmung unserer Veranstaltungen festzustellen.



Wo gehört Varieté dann also hin? In die Geschichte? In die Gegenwart? Oder ist es ganz einfach zeitlos?


Wie ganz allgemein in der Kunst existiert DAS Varieté genauso wenig wie DER Tanz, DIE Musik, DAS Theater oder DER Circus, um nur diese zu nennen. Selbstverständlich lassen sich das Aufkommen einer bestimmten Form, dramaturgische Entwicklungslinien, ästhetische Traditionen etc. historisch verorten, wie das auch bei den älteren Gattungen der Fall ist. Das Genre Varieté hat sich in seiner ihm eigenen Vielfalt jedoch spätestens mit seiner Renaissance in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gerade in Deutschland eine gewisse Zeitlosigkeit angeeignet, die es durch eine ständige Aktualisierung zu erhalten gilt, wenn die Form nicht ihrer eigenen Historisierung zum Opfer fallen will.



 

Zirkus trifft Zeitmaschine


Die traditionellen Elemente werden entweder als solche zelebriert und sind deshalb ein Genuss. Oder aber sie werden - zum Beispiel über Musik und Humor - übersetzt in die Sprache und Ästhetik der Gegenwart und wirken so frisch als wären sie gestern erst bei TikTok entstanden. Und das wäre dann ja tatsächlich: Neuland. Zumindest für alle über fünfzehn.


Was aber am meisten überzeugt und überhaupt keinen zeitlichen Bezügen unterliegt: Die Kunst der Bewegungen, Berührungen, Behandlungen. Was den Menschen auf der Bühne mit ihren Körpern gelingt, ist schlicht faszinierend, manchmal sogar atemberaubend. Und deshalb ist am Ende des Varietés vollkommen klar: Manche Dinge sind einfach zeitlos - und kommen deshalb nie aus der Mode.

bottom of page