Schaut man in diesen Tagen in die Veranstaltungskalender, drängt sich der Eindruck - oder die Hoffnung? - auf, dass Corona kein dominierendes Problem mehr ist. Der Spielbetrieb der Theater scheint sich vielerorts wieder einer Art Normalität anzunähern. Aber der Eindruck täuscht natürlich. Nach wie vor gibt es erhebliche Unsicherheiten in der Szene, vor allem bei den freien Akteuren. Für Sie gibt es #TakeHeart.
Ortstermin im theater wrede +: Das kleine Haus mit seinen rund hundert Plätzen liegt etwas verborgen in der Klävemannstraße unweit des Hauptbahnhofs. Anders als die benachbarte Kaiserstraße dient sie nicht als Einflugschneise vom Bahnhof zur Innenstadt und bewegt sich deshalb etwas unterhalb des Radars. Das allerdings ist eine Fahrlässigkeit, denn kulturell ist hier einiges los: Neben dem theater wrede+ haben hier das Blauschimmel Atelier und die interkulturelle Arbeitsstelle IBIS ihren Sitz. Und seit einigen Monaten auch: das Hauptquartier von flausen+, dem bundesweiten Netzwerk für Theaterforschung ohne Produktionszwänge. Die Linkdichte in diesem Absatz symbolisiert die kulturelle Konzentration sehr gut.
Die Akzentfarbe des theater wrede+ ist ein leuchtendes Magenta, der Eingang ist deshalb kaum zu verfehlen. Im Foyer treffen wir hier auf Pressesprecherin Katharina Proske, die spürbare Lust hat, etwas über #TakeHeart zu erzählen. Nur wenig später wissen wir auch warum: Die Rechercheförderung ist nicht nur sinnvoll, sondern auch spannend - und könnte am Ende kreative Impulse für Oldenburg bringen.
Zeit für Außergewöhnliches
Alle Welt ist froh, Corona immerhin ein Stück weit hinter sich zu lassen, bei #TakeHeart steht die Pandemie aber noch einmal voll im Mittelpunkt. Die Rechercheförderung richtet sich an freiberufliche Akteure aus der Theaterszene, die nach wie vor von der Ausnahme-Situation betroffen sind. Denn auch wenn sich die Veranstaltungskalender tatsächlich wieder füllen, kann von einem Alltag im vorpandemischem Sinne noch keine Rede sein. Die Folge: Etliche Engagements wurden noch nicht wieder aufgenommen, es fehlt weiterhin an Beschäftigungsmöglichkeiten.
„Der Blick von #TakeHeart richtet sich aber nicht nur auf professionelle Künstler:innen, die schon seit Jahren aktiv sind, sondern auch auf Absolventinnen, die nach dem Abschluss quasi direkt im Lockdown landeten“, erklärt Katharina. Es geht aber nicht einfach nur um eine finanzielle Unterstützung, so wichtig und hilfreich sie auch ist. „Das Programm soll vor allem Zeit und Möglichkeiten für aufwändige Recherchearbeiten bieten, die die Basis für spätere Produktionen und neue Arbeitsweisen sein können“, wie Katharina betont.
„Zum Kern des Programms gehört es, dass die Künstler:innen ohne Druck arbeiten können. Der Fokus liegt auf den Inhalten, nicht auf deren Vermarktbarkeit.“
Ob sich eine Produktion entwickelt, oder ob die Recherche-Ergebnisse einfließen in etwas Neues, ist bewusst offen gehalten. In der Regel bilden die Arbeitsergebnisse aber tatsächlich die Grundlage für Bühnenwerke. So war es im letzten Jahr auch bei Drangwerk, deren feministische Produktion „Eine wütende Frau“ schließlich im theater wrede+ aufgeführt wurde.
Katharina sieht auch eine Parallele zu flausen+, wo es seit 2011 um die Förderung freier Theaterforschung geht: „flausen+ ermöglicht u.a. ein Stipendium für professionelle Künstler:innen aus dem Darstellenden Bereich. Das Besondere ist dort, dass sie frei szenisch forschen können und genau wie bei #TakeHeart, keinen Produktionsdruck haben.“ Dazu bewerben sich jedes Jahr bis zu 150 Künstler:innengruppen und präsentieren ihre wagemutigen Projektideen vor einer hochkarätigen Jury. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich vom eng getakteten, zielorientierten Alltag. Zeit ist hier die Basis für außergewöhnliche Ergebnisse. #TakeHeart nimmt diesen Faden auf.
BEZIEHUNGSSTATUS: KOMPLIZIERT Geld vom Bund? Gibt es nicht einfach so. Für alles gibt es Organisationen und Strukturen, die zwar jede für sich sinnvoll ist (vermuten wir), die in ihrer Gesamtheit aber ziemlich komplex werden. So auch bei #TakeHeart. Die Staatsministerin für Kultur und Medien hat das Neustart-Kultur-Programm geschaffen, das seit 2020 die Corona-Folgen für die Kulturszene abmildern soll. Aus diesem Programm wird u.a. die #TakeThat-Reihe finanziert. Der Fonds Darstellende Künste (FDK) übernimmt dabei die Umsetzung und Organisation. 2021 wurde das Format #TakeCareResidenzen realisiert, 2022 folgt nun #TakeHeart. Dabei arbeitet der FDK mit Partnerorganisationen wie flausen+ zusammen. Warum? Weil diese vor Ort bestens vernetzt sind und im engen Austausch mit den lokalen Akteuren und Institutionen stehen. Das Netzwerk agiert als Schnittstelle zwischen den 418 Künstler:innen und dem FDK Das theater wrede + wiederum gehört zu den bundesweit 28 Spielstätten, die im flausen+-Netzwerk vereint sind.
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Relevante Recherche
Um am #takeheart-Programm zu partizipieren, konnten die Akteure Konzepte einreichen, die durch die Jury des Fonds Darstellende Künste bewertet wurden. Im Erfolgsfall gab es 5.000,- Euro für zwei Monate Recherchearbeit. „Die Themen haben sich die Künstler:innen dabei komplett selbst gesucht, das war offen und nicht begrenzt“, betont Katharina. „Zudem hatten sie die Möglichkeit, neue Arbeitsweisen zur finden, die auch dann funktionieren, wenn es einen weiteren Lockdown geben sollte.“ Auch den Recherchebegriff darf man dabei weiter fassen:
„Es geht nicht nur darum, Stoff zur sammeln, sondern auch darum, Formate zu denken und in den Austausch zu kommen mit Menschen.“
Bei den Projekten gehe es oft um um die kritische Auseinandersetzung mit relevanten Themen, bei der freien Theatermacherin Caro Lutz zum Beispiel um gesellschaftspolitische Aspekte romantischer Beziehungen. In Oldenburg kamen letztlich zwölf Einzelkünstler:innen, ein Zweier-Team und ein Dreier-Team zum Zug. Erfreulich dabei: 13 der 17 geförderten Künstler:innen sind Frauen.
Dass sich die Corona-Situation insgesamt deutlich verbessert hat, macht Programme wie diese keineswegs überflüssig. „Gerade in diesen Zeiten ist sowas wichtig“, betont Katharina. „Viele denken vielleicht: es hat schon alles wieder geöffnet. Aber so ist es ja erstmal nur theoretisch. Es gibt nach wie vor viele Unsicherheiten.“ Diese nimmt #TakeHeart zumindest für zwei Monate - und bietet gleichzeitig Raum für inhaltliche Weiterentwicklungen.
Das hat man nun davon
Und wie profitiert Oldenburg? Katharinas Antwort kommt schnell: „In erster Linie geht es ja darum, regionale Künstler:innen zu unterstützen, die auf diese Weise mit ihrer Arbeit weitermachen können und sich keine Alternativjobs suchen müssen.“ Einige von ihnen seien in der Region aktiv, kämen aber von außerhalb, was ebenfalls sehr wertvoll sei. „Als pulsierendes Haus schauen wir immer, wie wir Künstler:innen von außerhalb nach Oldenburg holen können. Damit wollen wir uns den Blick aus der Metaperspektive bewahren und im lebendigen Austausch bleiben“, erklärt Katharina.
Darüber hinaus können sich spannende Produktionen aus den Recherchearbeiten entwickeln. Und sollte es dazu kommen, dann steht Oldenburg mit dem theater wrede+ natürlich ganz vorne in der Reihe möglicher Spielorte.
„Interessant ist auch, dass dieses Mal sehr viele Oldenburger:innen eingebunden werden“, fährt Katharina fort. Ihre Meinungen, Haltungen, Gefühle und Vorstellungen gehören fest zu einigen Projektideen. Deshalb ist vorgesehen, die Menschen vor Ort direkt zu befragen oder sogar einzubinden.
Wer weiß? Vielleicht gehört ihr dazu, sagt einen alles entscheidenden - oder einfach wunderbaren - Satz, der schließlich einfließt in ein erfolgreiches Stück.
Das klingt interessant? Dann nichts wie los: Merle Mühlhausen sucht für ihre Projekt „Nicht alle Wege führen ins theater wrede +“ noch Menschen, die Lust haben, sich in April und Mai mit ihr auszutauschen. Sie untersucht die Bewegung von Oldenburger:innen rund um das Theater. Dabei skizziert sie Routen und analysiert räumliche und soziale Sackgassen. Interessenten können sich per Email bei ihr melden.
Katharina gerät beinahe ins Schwärmen, als sie weitere Projekte erwähnt: Lena Düspohl wird untersuchen, ob man spontane Begegnungen - wie sie sonst an einer Bar oder Bushaltestelle stattfinden - auch künstlich herstellen kann, indem man Sitzmöbel in unterschiedlichen räumlichen Konstellation arrangiert. Kristina Feix beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Theaterinszenierung zu einem interaktiven Parcours werden kann. Bei Irene Ebel wird Corona selbst ein Thema sein. Sie wird der Frage nachgehen, wie sich Distanz und Isolation auf unser Körperbild und unsere Eigenwahrnehmung ausgewirkt haben. Auch sie sucht noch nach Menschen, an einem Bewegungsworkshop teilnehmen.
Ihr wollt wissen, welche Projekte es noch gibt?
Kein Problem: Hier findet ihr alle siebzehn vereint.
EXPERIMENTE WAGEN Wer sich eine Vorstellung davon machen möchte, wie ein gelungenes Theaterexperiment aussehen kann, sollte sich den 13. und 14. Mai merken. Jeweils um 20 Uhr zeigt das Bochumer notsopretty-Kollektiv im theater wrede + seine Performance „Der Computer Nummer 3“. Dabei geht es nicht etwa um Informatik, sondern um Dating-Apps wie Tinder, also ums Swipen, Matchen, Daten. Wie beeinflussen die Apps unsere Art der Kontaktaufnahme, des Kennenlernens und des Zusammenl(i)ebens? Das Performancekollektiv eignet sich lustvoll unterschiedliche Strategien des Onlinedatings an und bringt ein humorvolles Mashup aus persönlichen Anekdoten und kritischer Analyse auf die Bühne. Unsere Empfehlung: Wagt eurer ganz persönliches Experiment und schaut euch das an. Tickets? Hier.
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Mehr Theater!
Freie Theaterexperimente sind einfach ein Muss für Menschen, die sich und die Welt gern hinterfragen. Zunächst müssen den Künstler:innen dafür aber die nötigen Freiheiten und Möglichkeiten geboten werden. #TakeHeart übernimmt genau das. Der Rechercheförderung gelingt es, einen ursprünglich sozialen Ansatz mit künstlerischen Akzenten zu verbinden und dadurch sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Werte zu schaffen. Well played.
Das flausen+-Netzwerk und das theater wrede + unterstützen diesen Ansatz mit großem Engagement. Deshalb war es auch keine Überraschung, dass sich die Akteure aus der Klävemannstraße an #TakeHeart beteiligen. Zwar werden die meisten Menschen auch weiterhin über die Kaiserstraße Richtung Innenstadt streben. Doch die Neu- und Wissbegierigen, die urbanen Abenteurer:innen und Kulturaficionados gehen eine Straße weiter. Denn Theater ist für sie eben: eine Herzensangelegenheit
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