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FUßBALL IST UNSER LEBEN

Guten Abend allerseits und herzlich Willkommen im Exerzierstadion am Pferdemarkt, wo für die Sportfreunde Staatstheater ein wichtiges Heimspiel ansteht. Das Team ist in Topform, der Matchplan steht, das Flutlicht funktioniert, was will man mehr? Wäre da nicht der schwere Gegner: Die SpVgg Zeitgeist ist ein richtig dicker Brocken. Das breit aufgestellte Starensemble ist bekannt für seine unbequeme Political Correctness und die überfallartigen Konter. Macht Fußball trotzdem noch Spaß? Und was hat Mats Hummels damit zu tun? Das klären wir jetzt. Anpfiff!


Gute Miene zum bösen Spiel? So gelassen wie der Rechtsaußen der blau-weißen Tischkicker sind aktuell auf jeden Fall die wenigsten. Spötter würden aber sagen, er sei ähnlich beweglich wie Hummels. (Bild: Kulturschnack)

Kurze Einstiegsfrage: Kann man aktuell über Fußball schreiben, ohne die WM in Katar zu erwähnen? Irgendwie schwierig. Zu präsent ist dieses Thema in all seinen Absurditäten. Das Event polarisiert und provoziert - ob man Fußball nun liebt oder es nie getan hat, spielt dabei fast keine Rolle. Diese WM erinnert an die Anatomie eines angekündigten Unfalls. Alles sprach dafür, dass im Wüstensand vieles eskalieren würde: Der scheinheilige Moralismus der FIFA, ebenso ihre unersättliche Geldgier, das Unrechtssystem der Wüstenstaats und der hilflose Umgang sämtlicher Fußballverbände mit unnötigen Petitessen und handfesten Skandalen. Dass zusätzlich entlarvt wurde, dass Deutschland definitiv keine Turniermannschaft mehr ist, war noch das Überraschendste.


Ausgerechnet jetzt feierte das Oldenburgische Staatstheater die Premiere eines - nun ja - Fußballstücks. Dabei handelt es sich - wenn man es auf das Wesentliche konzentriert - um den Monolog eines Fußballtrainers, der an der Theke des örtlichen Vereinsheims aushilft und dabei ausgerechnet auf ein Theaterpublikum stößt. Wenn das nicht die perfekte Gelegenheit ist, die intellektuellen Snobs mal mit ein paar bodenständigen Lebensweisheiten zu konfrontieren! All das ist ungewöhnlich genug, der Titel “Mats Hummels auf Parship“, setzt dem Ganzen aber noch die Krone auf. Was haben die Verantwortlichen sich nur dabei gedacht? Und warum sind trotzdem alle Vorstellungen ausverkauft? Eine Spurensuche.


 


„MATS HUMMELS AUF PARSHIP“

EIN FUßBALL-MONOLOG VON THOMAS BRUSSIG

FREITAG, 2. DEZEMBER, 19:45 UHR (AUSVERKAUFT)

DIENSTAG, 6. DEZEMBER, 19:45 UHR (AUSVERKAUFT)

DIENSTAG, 13. DEZEMBER, 19:45 UHR (AUSVERKAUFT)

MITTWOCH, 14., DEZEMBER, 19:45 UHR (AUSVERKAUFT)

SAMSTAG, 17. DEZEMBER, 15.45 UHR (RESTKARTEN)

SONNTAG, 18. DEZEMBER, 15:45 UHR (AUSVERKAUFT)

EXERZIERHALLE JOHANNISSTRAßE 6

26121 OLDENBURG

 

Entscheidend ist auf'm Platz


Gedacht haben sich die Macher tatsächlich so einiges, wie sich im Gespräch mit Dramaturg Jonas Hennicke herausstellt. Dass die Premiere des Stücks am Tag nach dem epochalen Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador stattfand, ist jedenfalls alles andere als ein Zufall. Denn: Nicht nur geht es in einem Stück mit Mats Hummels im Titel tatsächlich um Fußball, er wird auch integraler Bestandteil. Der Ort des Geschehens ist nämlich die Bar in der Exerzierhalle, die sich zu diesem Zweck ins Vereinsheim des MSV Börde (FYI: die Börde ist die Gegend um Magdeburg mit hervorragenden Ackerböden) verwandelt, in dem - tatsächlich live! - das jeweils laufende WM-Spiel zu sehen ist. Zumindest eine Halbzeit lang.


Szene aus Mats Hummels auf Parship im Oldenburgischen Staatstheater
Ein Mann in seinem Element: Der Trainer an der Theke (Bild: Stephan Walzl)

Und genau das ist bereits ein Herzstück des Abends, wie Jonas erzählt. „Für mich war dieses Live-Element entscheidend, als es darum ging, dieses Stück zu realisieren. Die Interaktion zwischen der Außenwelt und der Schauspielwelt hat mich von Anfang an fasziniert!“ Das mache nämlich jeden Abend zu etwas Einzartigem, weil sich der Trainer immer wieder auf das bezieht, was gerade auf dem Bildschirm zu sehen ist. Werbung für Shampoo? Er streichelt wehmütig seine Glatze. Ein böses Foul? Er erzählt von seinen eigenen Fußballverletzungen. Das gibt Raum für Spontanitäten und Improvisation, also für einmalige Erlebnisse im Kontext zum Moment. Das passt auch zur Frage, warum die Leute Fußball gucken: Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht. Und dieses Element der Unvorhersehbarkeit wird hier auch ins Theater übertragen.



Der Ball ist dein Freund


Überhaupt: Dieser Typ! Mit ihm steht und fällt das gesamte Stück - und zum Glück darf man nach der erfolgreichen Premiere sagen: Es steht. Der Trainer - großartig gespielt vom gebürtigen Ost-Berliner Matthias Kleinert - ist ein Unikum, wie es wahrscheinlich in jedem Fußballverein eines gibt: Tief in Ort und Verein verwurzelt, mit Ecken und Kanten und einer ganz eigenen Sicht auf der Dinge - dabei aber mit dem Herz am rechten Fleck und mit erstaunlich klugen Gegenwartsanalysen mit dem Fußball als Erklärungsmodell.


THEATER ALS TEAMWORK


Erfolgsautor Thomas Brussig (Bild: Jim Rakete, S. Fischer Verlag)

„Mats Hummels auf Parship“ hat eine interessante Vorgeschichte. Staatstheater-Dramaturg Jonas Hennicke kannte den Trainermonolog aus eigener Anschauung - aus einer Zeit, als er noch den Titel „Leben bis Männer“ trug und andere Schwerpunkte hatte. Als im Staatstheater die Entscheidung getroffen wurde, die WM in Katar zu thematisieren, nahm er Kontakt zum Autor Thomas Brussig auf und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, eine aktualisierte Fassung zu schreiben. Und siehe da: Hatte er.


Schnell reifte der Gedanke, das Stück nicht vollkommen allein umzusetzen. „Warum sollte jedes Theater seine eigene Uraufführung entwicklen?“, lautete dazu die rhetorische Frage von Schauspielleiter Peter Hailer am Premierenabend. Über persönliche Kontakte entstand eine Kooperation mit dem Volkstheater in Rostock, bekanntermaßen ebenfalls eine Fußballstadt. Dort fand das Stück in der Theaterkantine eine passende Heimat.


Dieser Trainer hat noch höchstselbst den Bördeboden mit seinen Stollen umgepflügt und kann demnach mit den Hochglanz-WM im Wüstenstaat nichts anfangen. Aber wo er schon eine Schicht im Vereinsheim übernehmen muss, kann der Kram auch laufen. Und dem blasierten Theaterpublikum gibt er seine Lebensgeschichte einfach mit auf dem Weg.


Wie kommt man auf sowas? „Die Idee schlummert eigentlich schon lange in meinem Hinterkopf“, erzählt Jonas, der die Urfassung des Stücks schon vor vielen Jahren im Deutschen Theater in Göttingen gesehen hat. „Als wir uns gefragt, ob wir was zur WM machen, ergab sich die ideale Gelegenheit.“


Und tatsächlich ist dieser launige Monolog vielleicht die beste Antwort darauf, wie man mit der aktuellen Situation umgehen könnte. Hier wird die WM kaum thematisiert, aber ausgeblendet wird sie trotzdem nicht. Sie ist einfach da und steht neben derm Fußball selbst, der zu viel Größerem taugt als der Bildschirm hergibt. „Uns war eigentlich von Anfang an klar, dass hier keine Jubelstimmung aufkommt“, berichtet Jonas. „Zu uns kommen eher das Publikum, dass Fußball soziologisch betrachtet.“ Und das kann man hier aus allen gedanklichen Perspektiven tun.


Spielort Exerzierstadion: Die Aufführungen beginnen stets eine Viertelstunde vor dem Anpfiff des Abendspiels der WM (Bild: Kulturschnack)

Dass Runde muss ins Eckige


Dass gerade mal dreißig Leute ins temporäre Vereinsheim passen, ist dabei nicht etwa ein Dilemma, sondern Teil des Settings: „Dadurch soll letztlich eine verschworene Gemeinschaft entstehen“, erklärt Jonas. Alle seien Teil dieser Szenerie und erlebten dort etwas einmaliges. „Das würde mit hundert Leuten längst nicht so gut funktionieren. Intimität braucht Nähe.“ Das fühlt sich fast schon nach Umkleide-Kabine an, nur ohne die markante Duft-Kombi aus Schweiß und Duschgel.


Womit wir schon bei der Stärke des Stücks wären. Oder sollte man besser sagen: Bei seiner Einzigartigkeit? Denn hier ist eigentlich alles anders, als es normalerweise beim Staatstheater ist: Das Thema, der Ort, die Größe. Man könnte sogar einen Gegenentwurf zur WM in Katar hineinlesen, denn hier ist alles vollkommen ungigantisch, quasi ein Kicker-Kammerspiel.


„Das spielt alles eine Rolle“, stimmt Jonas zu. „Als Theater musst du dich immer fragen: Was ist mein Alleinstellungsmerkmal, oder neudeutsch: der Unique Selling Point? Was biete ich also meinem Publikum?" Dabei gewinnen neue Narrative immer größere Bedeutung. „Natürlich kann ich auch einfach nur gute Stoffe klassisch darstellen. Aber: Das passiert woanders eben auch, nicht zuletzt bei Netflix und Co.“, gibt der Dramaturg zu bedenken.



Die obere Bar der Exerzierhalle in Oldenburg
Stilecht: Unten Torwand, oben Tischkicker. Das Vereinsheim des Staatstheaters kann sich sehen lassen (Bild: Kulturschnack)

Der Trend ist nicht vollkommen neu. Schon seit einigen Jahren werden innovative Format oder Umsetzungen immer beliebter. Jonas nennt als Beispiel das Erfolgsstück „Titanic“: Dort wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt das Publikum getrennt: Die vorderen Reihen wurden auf die Bühne geholt und gerettet, der Rest verblieb im Saal. Ähnlich war es bei der „Demokratischen Sinfonie“, einem Schauspiel- und Musiktheaterabend über die letzte Wahlperiode des Bundestags, das am Tag der Bundestagswahl mit den aktuellsten Hochrechnungen gekoppelt wurde.


Solche Momente sind exklusive Erfahrungen, die das Publikum besonders intensiv wahrnimmt und die deshalb später besonders häufig weitererzählt werden. Oftmals mit der Konnotation: „Das musst du gesehen haben!“



Nach dem Spiel ist vor dem Spiel


Wobei sich in diesem Fall der Reiz des Stücks nicht auf den Rahmen reduzieren lässt. Ein Genuss sind zum Beispiel die kleinen Irritationen - wenn etwa gleich zu Beginn Fußball läuft, all seine vermeintlichen Vorzüge aber gerade leider nicht zu sehen sind. Auch der Monolog selbst hat es in sich. Der Trainer ist kein leicht einzuordnender Charakter mit Vorzügen und Nachteilen. In der ersten Spielhälfte sind seine Erzählungen noch größtenteils leicht, bisweilen frotzelnd, aber in der Regel auf sicherem Terrain.


Weit im letzten Spieldrittel dann plötzlich ein grobes Foul: Der Trainer spricht über Corona und erklärt den Gästen im Vereinsheim mit einer Mischung aus Bitterkeit und Bierernst, warum man sich auf keinen Fall impfen lassen sollte. Schneller Blick in die Runde: Leichte Irritationen. Was kommt jetzt? Nein, nicht etwa querverwirrte Postulate, sondern ein schmerzhafter Twist, der Coach und Gäste wieder versöhnt.


RASANTES UNENTSCHIEDEN


Wer Fußball liebt, das Thema aber trotzdem ganz gerne mal aus der theatralischen Perspektive betrachten möchte, hätte normalerweise die Qual der Wahl. Nicht aber bei „Mats Hummels auf Parship“: Das Stück beginnt jeweils um 19:45 Uhr - eine Viertelstunde vor dem Beginn des jeweiligen WM-Abendspiels. Dieses Timing ist kein Zufall, denn die Spiele werden ja während der Stücks auf dem Vereinsheim-Fernseher laufen und somit zu einem Teil davon.


Was auf dem Spielfeld passiert, ist zu (fast) jedem Zeitpunkt zu sehen, bisweilen wird es sogar Gegenstand des Monologs von Matthias Kleinert. Wer also ins Theater geht statt auf der Couch oder in der Kneipe Fußball zu gucken, verpasst absolut gar nichts, gewinnt aber sehr viel.


Modern spielt, wer gewinnt


Autor Thomas Brussig, der das Stück seit seiner Entstehung immer wieder variiert und erneuert, bricht hier nicht mit allen, aber doch mit sehr vielen Regeln, die Fußball-Content normalerweise hat.

Hauptdarsteller Matthias  Kleinert vom Oldenburgischen Staatstheater
Welche Taktik? Diese Frage kann man auch aufs Leben beziehen (Bild: Stephan Walzl)

Er dient zwar auch hier als ein überraschend funktionsfähiges Erklärmodell für die Welt. Und auch hier fallen Sätze von unumstößlicher Klarheit, wie sie nur im Kontext zum runden Leder gesagt werden können, ohne vollkommen belanglos zu sein. Zum Beispiel: „Auf dem Platz brülle ich nicht. Das sieht nur aus wie Brüllen. Es ist aber leidenschaftliches Denken!“ Schöne Grüße an Sepp Herberger und Otto Rehhagel.


Aber: Brussig hört hier nicht auf. Er erzählt eben auch eine Geschichte - eine ostdeutsche, um genau zu sein. Es geht um Verbundenheit und Vertrauen, um Konstanten und Brüche im Leben, um Hoffnungen und Enttäuschungen - schlicht um die Lebenslehren eines gelernten Landmaschinenmechanikers und zufälligen Verfugers.


Das stünde auch für sich selbst, ganz ohne Fußball. Aber er taugt eben doch als Metapher für eigentlich alles. Und da wird wieder ganz deutlich: Fußball ist immer aufregend, manchmal absurd, gelegentlich pervertiert, aber eben doch ein Bezugspunkt - und „schon ganz schön“, wie der Coach sagt.



Das nächste Spiel ist immer das schwerste


Eines ist am Ende klar: Hier gibt es keine Hochglanzästhetik und keine glattpolierten Presse-Statements, Hier gibt es die andere Seite des Fußballs, die echte und lebendige, mit den Tacklings und Blutgrätschen des Lebens, die auch mal schmutzig ist und stinkt, die dafür aber ehrlich wirkt. Und das tut gut.


Dass Mats Hummels letztlich gar nicht für die WM nominiert wurde? Dass er sich im Oktober von seiner Frau Cathy getrennt hat und dseswegen vielleicht wirklich auf Parship zu finden ist? Dass die Abwehr in Katar ihn ihn auch nicht sicherer war als mit ihm? Zeigt einfach, wie überraschend der Fußball und das Leben sind - und warum sie so eng zusammengehören.


Momentan kann man vielleicht tatsächlich keinen Text über Fußball schreiben, ohne die WM in Katar zu erwähnen - aber immerhin fast! Abpfiff!


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