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EINS MIT STERNCHEN

Mit der Gleichberechtigung ist es so eine Sache. Für viele ist sie das normalste der Welt, schließlich sollte sie genau das auch sein. Für andere wiederum - vorwiegend für Männer - ist sie eine unnötige Diskussion, denn aus ihrer Sicht ist alles gut, wie es ist. Dass wir bis auf weiteres noch auf gegenseitige Toleranz angewiesen sind, zeigt sich aber nicht nur beim Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebensrealitäten, sondern manchmal auch... im Cadillac!?


Live-Foto der Oldenburger Band Catapults mit einem Asterik
Kennt jeder: Die charakteristische Stimmung bei Live-Konzerten. Und trotzdem ist die Erfahrung nicht für alle dieselbe. (Bild: Kulturschnack)

Wer auf ein Punk-Konzert geht, rechnet mit vielem: Moshpit, Stagedives, jeder Menge Wut. Dass man bei so einem Anlass aber plötzlich mit dem Thema Gleichberechtigung konfrontiert ist, dürfte noch eine Ausnahme sein. Doch genau so war es an einem Abend im Dezember, als die Local Heroes von Catapults und Loose Lips ihr Jahresabschluss-Konzert spielten, Und nicht nur das. All diese Dinge - Moshpit, Wut, Genderfragen- vermischten sich und machten aus dem Konzert ein kleines Lehrstück in Sachen Gegenwartskultur.


Es muss kurz nach 23 Uhr gewesen sein. Catapults waren schon eine Weile auf der Bühne, als Bassist Lars höflich eine Bitte äußerte: Der nächste Moshpit möge doch bitte für FLINTA* reserviert sein, die CIS-Männer sollten ihren wuchtigeren Körpern eine Pause gönnen. „Ich finde es allgemein wichtig, sich in der alternativen Musikszene - und auch überall anders - für FLINTA* einzusetzen und für Sichtbarkeit zu sorgen“, beschreibt Lars seine Haltung. Die Punk- und Hardcore-Szene sei schon immer sehr politisch gewesen und er sei mit dem Mindset aufgewachsen, dass jede Person auf Konzerten willkommen sei.


„So fühlt es sich als männlich sozialisierte Person auch an. Doch blickt man tiefer in die Szene, bemerkt man, dass FLINTA* auch hier noch sehr unterrepräsentiert sind.“


So sieht das aus: Ein Track der letzten Catapults-EP mit Live-Bildern der Band. (Video: Connor McBriarty)


Schutzraum ohne Furcht


An diesem Abend fiel seine Bitte auf fruchtbaren Boden: Es öffnete sich eine Art offener Schutzraum, der endlich möglich machte, was sonst schwierig ist: Als FLINTA* in den Pit zu gehen, ohne Blessuren befürchten zu müssen. Zunächst wirkte es zwar, als könnten die Betroffenen ihr Glück kaum fassen; jedenfalls wurde kurz noch artig getanzt. Bald jedoch nutzen die FLINTA* die neuen Möglichkeiten aus und genossen das neue Gefühl, unter ihresgleichen abzugehen - ganz ohne die Furcht, den Ellbogen eines Zwei-Meter-Hünen ins Gesicht zu kriegen.


Durch die ebenso sympathische wie wichtige Bitte der Band hatten erstmals alle die Möglichkeit, die selbstbewusste CIS-Männer immer haben: Zu tun, was man will - ohne mit allzu großen Nachteilen rechnen zu müssen. Wir fanden das Ganze auch als explizit Ausgeschlossene wunderbar mit anzusehen und auch die allermeisten Anwesenden hatten keinerlei Problem damit. Was sind schon drei Minuten Pause im Vergleich zu einer lebenslangen Benachteiligung? Richtig: Gar nichts. Doch: Das sahen nicht alle so.


WAS BEDEUTET WAS? AUF DER HÖHE DER ZEIT Moment mal. FLINTA*? CIS? Was in der Kulturszene und in einigen weiteren Bubbles längst etablierte Begriffe sind, verursacht bei vielen anderen Mitmenschen Stirnrunzeln. Dafür sollte man Verständnis haben, denn abgesehen von den Erfinder:innen dieser Akronyme mussten wir alle irgendwann erstmal lernen, wofür es steht - die einen früher, die anderen später. CIS Die Begriffe „cisgeschlechtlich“, „cisgender“ oder „cis“ (lat. „cis-“: diesseits) beschreiben Menschen, die sich dem Geschlecht zugehörig fühlen, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Sie erleben häufig eine Übereinstimmung zwischen ihrem Körper und ihrer Geschlechtsidentität. Als „normal“ wird in unserer Gesellschaft Cisgeschlechtlichkeit angesehen, cisgeschlechtliche Menschen genießen Vorteile, wie zum Beispiel sich nicht erklären zu müssen oder ohne Angst Umkleidekabinen in öffentlichen Bädern nutzen zu können


FLINTA* FLINTA* ist eine Abkürzung und steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen. Der angehängte Asterisk dient dabei als Platzhalter für alle Personen, die sich in keinem der Buchstaben wiederfinden, aber dennoch von Marginalisierung betroffen sind. Mit der Abkürzung wird oft auf die Einladungspolitik bestimmter Räume verwiesen, die dadurch als inklusiv und für Personen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten offen dargestellt werden. LSBTIQ* „LSBTIQ*“ oder ähnliche Zusammensetzungen dienen als Abkürzung für „Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen“. „Lsbtiq*“ steht entsprechend für „lesbisch, schwul, bisexuell, trans-, intergeschlechtlich und queer“. Diese Abkürzungen beschreiben strategische Allianzen zwischen Menschen mit sehr verschiedenen Lebensrealitäten, Bedarfen und Zielen, die jedoch alle von Diskriminierungen betroffen sind, weil sie den herrschenden Vorstellungen über Geschlecht und Begehren nicht entsprechen. In manchen Schreibweisen werden weitere Buchstaben wie zum Beispiel „a“ für asexuell oder ein Sternchen (*) als Platzhalter für weitere Selbstbezeichnungen hinzugefügt.

Dank an das Regenbogenportal des BMFS für die Definitionen.


„Wenn man auf der Bühne steht, ist es bei allem Spaß auch Teil des Jobs, das Publikum ein wenig zu lesen und die Show den Umständen entsprechend zu gestalten“, erklärt Sänger Joost. Schon während des Auftritts habe er mitbekommen, dass es in der Menge teilweise ziemlich grob zuging und sich deshalb einige zurückhielten, Das sei für die Band aber nicht Sinn der Sache:,


„In einem Pit sollte bei aller Schubserei eine gewisse Umsicht herrschen und alle sollten die Möglichkeit zum Tanzen haben. Entsprechend an Bord war ich dann auch direkt mit der Idee von Lars für einen FLINTA*-Pit.“


Plakat für das Konzert der Oldenburger Bands Catapults und Loose Lips im Dezember 2023 im Oldenburger Jugendzentrum Cadillac.
Ort des Geschehens: Das Jahresabschluss-Konzert von Catapults, allerdings mit Loose Lips statt mit Bloomer.

Lehrstunde für Respekt


Dann aber kam es zu einem jähen Ende des positiven Vibes. Plötzlich sprang nämlich doch ein Mann im Pit umher und dominierte ihn mit seiner körperlichen Präsenz sofort. Wahrscheinlich konnte er seinerseits sein Glück nicht fassen: endlich mal der Größte und Stärkste sein!


Nun hat man es bei Catapults aber nicht mit einer Band ohne Haltung zu tun. Das zeigte bereits der Moshpit-Vorstoß, das zeigte dann aber auch die Reaktion von Sänger Joost. Er wurde richtiggehend wütend angesichts des ungebetenen Gasts. Deutlich und lautstark forderte er den Betreffenden auf, den Pit wieder zu verlassen, die Band brach den Song sogar ganz ab. Der Störenfried bekam coram publico eine kurze Lehrstunde ins Sachen Respekt. Anschließend ging es aber weiter mit dem Song und FLINTA*-Pit, wenn auch mit einem kleinen Bruch in der ausgelassenen Stimmung.


„Als ich sah, dass sich da jemand gesichert Männliches wiederholt in den Pit hineinzwängen wollte, brauchte ich keine große Bedenkzeit“, erinnert Joost sich zurück. Es sei sogar eine Kurzschlussreaktion gewesen, den Song direkt abzubrechen und das Problem deutlich anzusprechen:


„Es war einfach klar ersichtlich, dass da jemand die Situation falsch gelesen hatte. Dann liegt es auch in unserer Pflicht, darauf hinzuweisen und die Situation klar aufzuklären.“

In diesem kurzen Moment, der insgesamt keine fünf Minuten dauerte, steckt sehr viel Gegenwartsbetrachtung. Erst einmal feiern wir an dieser Stelle Catapults! Es war eine starke Idee, zum FLINTA*-Pit aufzurufen. Das wäre es sogar als reine Geste gewesen, aber wer das Resultate beobachtete, würde sich wünschen, es gäbe so einen Pit auf jedem Konzert. Ebenso stark war Joosts Reaktion auf die Störung der Aktion. Hier wurde nicht bequem darüber hinweggesehen, hier wurde Position bezogen - etwas, das wir in Zukunft wahrscheinlich noch viel öfter tun sollten oder sogar müssen.



Stimmungsbild: Zur Veröffentlichung dieses Artikels haben wir in einer Insta-Story gefragt, ob es FLINTA*-Moshpits braucht. Das Ergebnis ist nicht repräsentativ, spiegelt die Lage aber ganz gu wider. (Screenshot: Kulturschnack)



Auftrag an alle


Klare Rollenverteilung also? Auf der Bühne die Guten, der CIS-Mann der Böse? Nein, ganz so einfach ist es nicht. Denn wir dürfen nicht in so einfachen Kategorien denken. Derjenige, der als Mann in den FLINTA*-Mob sprang, könnte auch ein Opfer der Umstände sein. Erstens wäre es möglich, dass er schlicht nicht wusste, wofür FLINTA* steht. Ganz ehrlich: Wären wir nicht ständig im Kultursektor unterwegs, wüssten wir es vielleicht auch nicht. Es kann passieren, dass Menschen mit gutem Musikgeschmack nicht bei jeder gesellschaftlichen Diskussion ganz vorne mit dabei sind. Uninformiertheit ist vielleicht nicht schön, kann themenbezogen aber jeden treffen. Wir alle sollten da tolerant sein, und die Menschen freundlich mitnehmen und von der Masse (vorerst) nicht zu viel erwarten.


Plakat zur FLINTA*-Tour der Punkbands Team Scheiße  Und 24/7 Diva Heaven
Der Zeit voraus? Kurz vor dem Konzert im Cadillac hatten 24/7 Diva Heaven und Team Scheiße sogar eine FLINTA*-only-Tour absolviert. (Bild: Team Scheiße)

Zweitens könnte der Störenfried bei der Ansage theoretisch auch einfach auf dem Klo gewesen sein und im Halbdunkel schlicht übersehen haben, dass der Pit nur aus FLINTA* besteht. Vielleicht war es sein Lieblingssong und er war überglücklich zu ihm abgehen zu können und merkte erst, dass er der einzige Mann war, als Joost ihm diese Tatsache ins Gesicht brüllte. In diesem Fall ist dies zwar auszuschließen, da der Betreffende wiederholt in den Pit ging - generell abzuschließen sind solche Miss-Verständnisse aber nicht.


Das weiß auch Joost: „Ich habe den Konzertbesucher nach dem Konzert nochmal in Ruhe angesprochen und mich für meine Härte beim Abbruch des Songs entschuldigt. Wir haben die Situation zusammen nochmal aufgearbeitet. Man kann schließlich nicht bei allen Menschen davon ausgehen, mit Begriffen wie FLINTA* vertraut zu sein - so wünschenswert es auch wäre.“ Der Blick geht also nicht kritisch zurück, sondern konstruktiv nach vorn, wie auch Lars bestätigt.


„Wir als Musiker*innen, Veranstalter*innen, Labels etc. haben es in der Hand, unser Programm diverser zu gestalten, für mehr Sichtbarkeit zu sorgen und Konzerte zu einem Safespace für jede Person zu machen.“


Toleranz im Gepäck


In unserer Gesellschaft gibt es sicherlich Menschen, die einen FLINTA*-Pit für vollkommen überflüssig halten und darauf bestehen würden, ohne Rücksicht auf Verluste ihre massiven Männerkörper in jede Menge zu werfen. Es gibt auch jene, die Begrifflichkeiten wie FLINTA* ablehnen und jede Art von Gleichberechtigung für eine Provokation halten, wenn es bedeutet, dass sie in jenen Freiheiten eingeschränkt werden, die ihnen seit Jahrhunderten ohne jede Begründung zugestanden werden.


Die Band Catapults aus Oldenburg nach einem Konzert im Oldenburger Cadillac.
Alles wieder gut: Trotz der Unterbrechung war das Konzert ein grandioser Jahresabschluss. Oder: Auch deswegen? (Bild: Connor McBriarty)

Deshalb ist es wichtig, immer wieder Zeichen zu setzen und an all diese Vorteile zu erinnern. Dazu gehören Awareness-Konzepte in den Clubs und dazu gehört auch die Haltung von Künstler:innen wie Catapults. Es war genau der richtige Vorstoß, bei ihre Hometown-Show einen FLINTA*-Pit zu starten und wir hoffen, sie setzen diesen Gedanken trotz der unschönen Momente im Cadillac fort. Das Konzert war eins mit Sternchen - und dafür gibt's von uns die Note 1 mit Sternchen! Way to go, Jungs!


Bis auf weiteres sollten wir aber noch viel Toleranz im Gepäck haben. Nicht jeder weiß, für was FLINTA* steht, nicht jeder ist sofort bereite, seine Gewohnheiten hinter sich zu lassen. Das müssen wir nicht gut finden, wir können aber Verständnis aufbringen. Moshpits, Stagedives und viel Wut wird es zwar ganz sicher weiterhin bei Punk-Konzerten geben. Aber letzteres richtet sich dann hoffentlich wieder an die Welt als solche - weil die Pits genau so funktionieren, wie sie gedacht sind.

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