ZEITLOS ZEITGEMÄß
- kulturschnack
- 18. Mai 2022
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Mai 2024
Alle zwei Jahre verleiht die Stadt Oldenburg den Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik. Nie davon gehört? Dann wird es Zeit. Er gehört nämlich zu den bekanntesten und relevantesten Preisen in diesem Bereich und besitzt hohe internationale Bedeutung. Hier erfahrt ihr alles Wichtige: Was es mit dem Preis auf sich hat, welche besondere Bedeutung er gerade in diesen Zeiten besitzt und natürlich auch, wer ihn in diesem Jahr bekommt. Spoiler: Es ist ein waschechter Superstar.

Jetzt, immer und überall
Ihr fragt euch vielleicht: Kann dieser Preis wirklich so wichtig sein, wenn er nicht auf sämtlichen Titelseiten der Nation auftaucht? Berechtigter Einwand. Aber: Bekanntheit und Bedeutung standen noch nie einem zwingenden Zusammenhang, sonst würde niemand die Kardashians kennen. Außerdem genießt der Preis in Fachkreisen höchste Wertschätzung. Woran es aber tatsächlich noch hakt: Möglichst vielen Menschen plausibel zu machen, warum der Preis kein Nischenthema ist, sondern uns alle betrifft und für uns alle spannend und lehrreich sein kann.
Um ihn etwas besser zu verstehen, muss man eigentlich nur auf den Untertitel schauen: „Zeitgeschichte und Politik“ passieren jetzt, immer und überall. Sie bestimmen unser tägliches Leben, definieren unsere Möglichkeiten und setzen uns Grenzen. Diese beiden Begriffe verdichten all das, was um uns herum passiert, zu Themen und Ereignissen mit historischer Bedeutung. Das heißt also: Zeitgeschichte und Politik haben einen hohen Aktualitätsbezug und eine enorme Bedeutung für unser Leben. Anders ausgedrückt: Was wir heute als epochale Momente kennen, war zum Zeitpunkt des Geschehens: Zeitgeschichte und Politik.

Nie wieder Krieg!
Der Preis wird seit 1984 von der Stadt Oldenburg verliehen. Erinnern wir uns kurz zurück an die damalige Zeit: Wir befanden uns inmitten des Kalten Krieges zwischen West und Ost mit dem Brennglas Deutschland, wo beide Systeme eine Grenze teilten. Nach vier flüchtigen Jahrzehnten des Friedens in Europa schien vieles wieder auf dem Spiel zu stehen. Zudem gab es in den Jahren zuvor eine langwierige - auch international beachtete - Auseinandersetzung um die Namensgebung der Oldenburger Universität. Diese Zeit war der ideale Moment, um die pazifistischen Ideale Carl von Ossietzkys wieder aufzunehmen. Er, der im KZ Esterwegen vor den Toren Oldenburgs inhaftiert war, forderte schon sechzig Jahre zuvor "Nie wieder Krieg!". Oldenburg nahm sich zum Ziel, diejenigen Menschen auszuzeichnen, die sich im Geiste Ossietzkys genau dafür engagierten - und die dabei vor allem die Verständigung zwischen West und Ost im Blick hatten.
„Geschichte wiederholt sich nicht“, sagen manche. „Tut sie doch, wenn man nicht daraus lernt“, kontern andere.
Und sie scheinen in diesem Fall recht zu haben, denn die Konstellation aus dem Jahr 1984 kommt uns heute, weitere vier Jahrzehnte später, seltsam bekannt vor. Fronten zwischen Ost und West, Kriegsgefahr in Zentraleuropa und der große Bedarf an Verständigung zwischen beiden Seiten - das ist heute fast so brennend aktuell wie damals. Der Carl-von-Ossietzky-Preis hat also weiterhin genau die richtige, wichtige Zielrichtung. Denn er hält Erinnerungen wach, vertritt Werte und Ideale und wirkt positiv in die Zukunft - genau wie seine Preisträger:innen auch.
Vorhang auf für den neuen Preisträger
Der Carl-von-Ossietzky-Preis hatte bisher schon einige bekannte Preisträger:innen. Noam Chomsky war zum Zeitpunkt der Verleihung im Jahr 2004 einer der bekanntesten libertäre Visionäre der Welt. Ahmad Mansour gehörte bei der Verleihung 2016 zu den bekanntesten und kenntnisreichsten Kommentatoren der damaligen Islamismus-Debatte. Doch der diesjährige Preisträger schlägt in Sachen Bekanntheit wohl alle bisherigen Dimensionen. Es handelt sich um niemand geringen als den weltberühmten Pianisten Igor Levit. Er wird aber nicht etwa für sein virtuoses Spiel ausgezeichnet - sondern für das, was er sagt und tut, wenn er nicht am Flügel sitzt.

Als bekennender Europäer und international gefeierter Pianist engagiert sich der gebürtige Russe Igor Levit in vielfältiger Weise für den Klimaschutz und für die uneingeschränkte Achtung der Menschenwürde. „Ganz im Sinne Carl von Ossietzkys spürt und analysiert Levit nicht nur die Brüche der Gesellschaft, in der er lebt, sondern er positioniert sich konsequent gegen Rassismus, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und die Verrohung der Sprache“, schreibt die Jury in ihrer Begründung. Mit seiner Stimme als Musiker und als politisch denkender, sprechender und handelnder Mensch erreiche Igor Levit Menschen verschiedener Generationen und sensibilisiere für die Dringlichkeit mutigen zivilgesellschaftlichen Engagements.
„Die Zeit, in der man passiv sein konnte, ist vorbei!“
Mit diesen klaren Worten begründet Levit seine Haltung. Für ihn ist gesellschaftspolitisches Engagement eine staatsbürgerliche Pflicht, wenn wissenschaftliche Fakten geleugnet, Menschen ausgegrenzt, demokratische Prinzipien gefährdet und Menschenrechte verletzt werden. So haben unter anderem die Griechenland-Krise 2008, der Syrien-Krieg und die Flüchtlingsströme 2015, das weltweite Erstarken von Rechtspopulismus, Extremismus und Antisemitismus sowie der Klimawandel wesentlich zu seinem politischen Engagement beigetragen. Gegenüber der „Zeit“ sagte er einmal:
„Ich will nicht nur der Mann sein, der die Tasten drückt“
Dieses Vorhaben setzt er in die Tat um. Dabei nimmt er in Kauf, offen kritisiert oder gar angefeindet zu werden. Sein positives Sendungsbewusstsein, sein Bedürfnis für seine Vorstellungen einzutreten und andere von ihnen zu überzeugen - das zeichnet Levit aus und das eint ihn auch mit dem Namensgeber des Carl-von-Ossietzky-Preises.
Pianist und Politaktivist
Levit positioniert sich nicht nur in unzähligen politischen Statements in den sozialen Medien, sondern auch mit musikalischen Open-Air-Auftritten gegen rechts wie 2020 in Potsdam und 2021 in Jamel bei Wismar. Musikalische Aktionen am Klavier für mehr Klimaschutz führten ihn unter anderem 2019 im Rahmen eines Klimastreiks in die Oldenburger Fußgängerzone und 2020 im Zuge der Baumrodungen für die A 49 in den Dannenröder Forst. Anlässlich des aktuellen Kriegsgeschehens bezieht Levit Stellung, indem er seine Solidarität mit der Ukraine zum Ausdruck bringt. Ein Twitter-Hauskonzert mit russischen und ukrainischen Künstlern sowie ein Benefizabend im Berliner Ensemble zugunsten des Aktionsbündnisses Katastrophenhilfe wurden von ihm spontan initiiert.
Der Carl-von-Ossietzky-Preis mag nicht jedem geläufig sein. Die Bedeutung seiner inhaltlichen Ausrichtung aber - insbesondere im Kontext zum aktuellen Tagesgeschehen - macht ihn aber unabhängig von seiner Bekanntheit zu einem Glanzlicht der Auszeichnungslandschaft. Der Preis hat im Laufe der Zeit nichts von seiner Aktualität eingebüßt, sondern beweist sich vielmehr als zeitlose zeitgemäße Würdigung bedeutender gesellschaftlicher Positionierungen im Geiste Ossietzkys. Danke, Igor Levit, für Ihren Beitrag dazu.
FREITAG, 9. DEZEMBER 2022
VERLEIHUNG DES CARL-VON-OSSIETZKY-PREISES
FÜR ZEITGESCHICHTE UND POLITIK
AN IGOR LEVIT KULTURZENTRUM PFL




