AMY KURZWEIL: ARTIFICIAL
- kulturschnack
- 14. Okt.
- 12 Min. Lesezeit
Die Geschichte der eigenen Familie, ein wiederkehrendes Thema in der Literatur, das bereits viele Menschen beschäftigt hat und so auch schon auf unterschiedlichste Arten verhandelt wurde. Doch sehr wahrscheinlich taten es wenige auf so interessante und spezielle Weise, wie die amerikanische Cartoonistin und Autorin Amy Kurzweil mit ihrer Graphic Novel "Artificial". Im Rahmen der U.S.A. Begegnungen war Kurzweil für einen Vortrag zu Gast im Schlauen Haus Oldenburg. Wir hatten die Gelegenheit, ihr ein paar Fragen stellen zu können.

Wenn wir uns für gewöhnlich an Menschen erinnern möchten, die nicht mehr in unserem Leben sein können, doch trotzdem eine wichtige Rolle für uns spielten, schauen wir uns beispielsweise alte Fotos von Ihnen an und schwelgen in Erinnerungen oder Erzählungen über eben diese Personen. Amy und ihr Vater Ray Kurzweil, lange Zeit Leiter der technischen Entwicklung bei Google, ein Futurist und Pionier in der Entwicklung von optischer Texterkennung und Synthesizern (Kurzweil Music Systems), haben sich für einen, nennen wir es, ungewöhnlichen und doch am Ende absolut passenden Ansatz entschieden, der das Ganze auf eine völlig neue Ebene hebt.
Denn Amys Großvater, Fritz (später: Fred) Kurzweil, den sie nie selbst persönlich kennenlernen durfte, war dort ein angesehener jüdischer Musiker und Komponist in Wien, dem 1938 eine amerikanische Bewunderin seiner Arbeit das Visum für die Vereinigten Staaten und somit die Flucht vor den Folgen des Nationalsozialismus ermöglichte. Vermutlich auf Basis dieser Fluchterfahrung und der steten Angst vor dem Verschwinden der eigenen Existenz, bewahrte Fred Kurzweil in den folgenden Jahrzehnten Unmengen an Dokumenten und persönlichen Schriften auf, die er nach seinem Tod Ray Kurzweil, seinem Sohn, vermachte, der diese ebenfalls viele Jahre wie einen (Daten-)Schatz hütete.
MISSION: UNSTERBLICHKEIT
Aus dieser umfassenden Basis an Informationen rund um sein Leben und seine Gedankenwelt, entwickelte sich irgendwann die, in den Ohren der Meisten wohl unglaublich klingende Idee, den eigenen Groß-(Vater) wieder zum Leben zu erwecken, in der Form eines Chatbots - dem "Fredbot". Für Familie Kurzweil war es hingegen wohl eher ein recht logisch anmutender Prozess. Auf der einen Seite Ray Kurzweil, Erfinder und einer der berühmtesten Vertreter des Transhumanismus. Seine Prognose, die er bereits 2005 traf, also lange bevor das Thema KI für die Gemeinheit relevant wurde: im Jahr 2045 wird die maschinelle Intelligenz, die der Menschheit übertreffen. Ein Momentum, das Kurzweil unter dem Begriff der "Singularität" mitgeprägte. Auf der anderen Seite Amy Kurzweil, die schon ihre erste Graphic Novel "Flying Couch" der eigenen und nicht minder spannenden Familiengeschichte mütterlicherseits widmete. Sie machte es sich parallel zur Aufgabe, auch diesen familieninternen Entwicklungsprozess - diesmal jedoch väterlicherseits - künstlerisch festzuhalten.
Und so entstand Stück für Stück nicht nur ein Programm, das es sowohl Ray als auch Amy ermöglichte, einem verloren geglaubten Familienmitglied all die Fragen stellen zu können, die nie gestellt werden konnten. Es entstand ebenso das zugehörige Buch "Artificial - Mit KI zur Unsterblichkeit?". Wir wollten diese einmalige Gelegenheit nutzen, die Autorin persönlich zu dieser Zeit zu befragen und herauszufinden, ob sich hinter dieser vermeintlichen Geschichte rund um die technologische Entwicklung unserer Zeit, im Geheimen doch vielleicht viel eher ein Lobgesang auf die Kraft der Kunst und ihre verbindende Kraft verborgen liegt - vielleicht sogar über den Tod hinaus.
Kulturschnack: Erinnerst du dich noch an den Moment, als du erkannt hast, dass das Zeichnen deine Leidenschaft ist?
Amy Kurzweil: Das war während meiner Collegezeit. Ich war tatsächlich gar nicht als Künstlerin ausgebildet und hielt mich auch selbst nie für eine besonders gute. Ich war jedoch immer schon am Schreiben interessiert. Aber als ich dann zum ersten Mal nach Europa kam - ich studierte im Ausland, in Großbritannien - und von dort ein wenig durch Europa reiste und all diese Museen besuchte, begann ich, das Zeichnen ernster zu nehmen. Ich ging zu Gemälden, suchte mir kleine Ausschnitte, die mir gefielen und zeichnete sie in mein Notizbuch, ging dann zum nächsten Bild, fand wieder ein Detail, das mir gefiel, und zeichnete es ebenfalls hinein. So entstand nach und nach eine Art Collage aus all diesen verschiedenen großen Kunstwerken. Ich begann, über Komposition und Anordnung nachzudenken, darüber, wie sich einzelne Bildelemente zu einem Ganzen verbinden lassen würden. Dieser Prozess gefiel mir sehr, doch für besonders gut hielt ich mich noch immer nicht so wirklich.
Am College begann ich dann an meinem ersten Buch "Flying Couch" zu arbeiten. Es ist die Geschichte meiner Großmutter, die aus Polen stammt und den Holocaust überlebt hat. Ich wusste ganz genau, dass das eine wichtige Geschichte ist, die erzählt werden musste. Mir war dabei wichtig, ihre Lebensgeschichte auf nachvollziehbare, lineare Art und Weise zu dokumentieren. Gleichzeitig wollte ich aber auch die Geschichte der drei Generationen von Frauen erzählen (Anm. d. Red.: ihrer Großmutter, ihrer Mutter und Amy Kurzweil selbst): Wie es ist, mit einer solchen Familiengeschichte aufzuwachsen, und warum ihre Relevanz bis zu uns in die Gegenwart reicht.
Ich wusste, dass ich all diese Themen, wie jüdische Identität erforschen wollte und zunächst tat ich das über das bloße Schreiben, aber etwas fehlte – Emotion, Humor. Es fühlte sich nicht wirklich inspirierend an, einfach nur dazusitzen und diese Geschichten runterzuschreiben. Aber dann las ich "Maus", eine berühmte Graphic Novel, die sich ebenfalls um den Holocaust dreht und viele kreative Techniken, wie beispielsweise Symboliken für die einzelnen Figuren nutzt. Ich las dieses Buch jedenfalls und war so beeindruckt, wie viel Bedeutung, Humor und literarische Raffinesse in dieser Form möglich waren. Also begann ich selbst, einen Comic zu zeichnen und als ich ihn anderen zeigte, waren sie begeistert und wollten weiterlesen – ganz im Gegensatz zu meinen bloßen Texten, bei denen die Reaktion viel eher war: „Ich les' es mal bei Gelegenheit.“ (lacht)
Meine Emotionen, meinen Humor und mein Inneres so authentisch ausdrücken zu können, ohne dabei dieses Erbe zu verharmlosen, hat mich einfach total in meinem Handeln bestärkt. Es funktioniert mit Comics einfach perfekt – und seitdem zeichne ich Comics.
Die Verarbeitung deiner Familiengeschichte ist das prägende Element deiner beiden Hauptwerke. Hat dich diese Geschichte immer schon beschäftigt, noch bevor du wusstest, dass du sie in deinen kreativen Arbeiten thematisieren wirst?
Ich denke, für die meisten von uns ist unsere Familiengeschichte und unsere kulturelle Herkunft wie die Luft, die wir atmen – oder wie das Wasser für Fische, das ebenfalls sie nicht bemerken, solange sie darin schwimmen. Man lebt damit, aber man denkt nicht ständig darüber nach.
Aber ich denke, wenn sich das eigene Leben verändert – zum Beispiel, als ich das erste Mal von zu Hause wegzog - da wurde mir klar, wie besonders diese Geschichte in meinem kulturellen Kontext war. Ich hatte zwar Freunde mit Eltern, die ebenfalls eingewandert waren und auch jüdische Freunde, aber die Erlebnisse meiner Großeltern waren so dramatisch, dass mir bewusst wurde, dass diese Geschichte etwas besonderes ist und wie ein unsichtbarer, aber zentraler Teil meiner Identität war – etwas, das beeinflusste, wie ich die Welt sah.
Es war also nicht so, dass ich ständig über diese Geschichte nachdachte. Aber in bestimmten Momenten des Umbruchs wurde mir klar, wie sehr sie meine Reaktionen auf die Welt prägte.
Als klar wurde, dass dein Vater den sogenannten „FredBot“ erschaffen wollen würde – also einen Chatbot der deinem Großvater entsprechen sollte: Wusstest du da sofort, dass das der richtige Moment war, dieses Projekt zu dokumentieren und daraus ein neues Werk entstehen zu lassen?
Ja, ich glaube schon. [...] Ich denke, ich wusste, dass ich über dieses Thema schreiben wollte, als ich von den Archiven meines Großvaters erfuhr.
Du wusstest von diesem Bestand also vorher gar nichts?
Nicht wirklich – zumindest war mir der Umfang nicht bewusst und wie spannend es sein würde, Zeit damit zu verbringen. Vielleicht hatte mein Vater irgendwann in meiner Kindheit mal erwähnt, dass er „all diese Sachen“ von meinem Großvater habe, aber das lag alles irgendwo außerhalb unseres Hauses – also schenkte ich dem keine besondere Beachtung.
Ich erinnere mich, dass ich dann davon in den Büchern meines Vaters las und eine Dokumentation über ihn sah – "Transcendent Man". Diese Filmaufnahmen waren für mich sehr bedeutsam, weil darin Material von ihm in den besagten Lagerräumlichkeiten gezeigt wird und er dort über seinen eigenen Vater spricht. Es ist faszinierend, wie Kunst manchmal der Auslöser einer Erkenntnis sein kann – etwas, das man zwar schon gehört , aber nie wirklich begriffen hat. Wie bedeutsam dieses Archiv, wie prägend der Verlust seines Vaters für ihn war. Und dann ist man plötzlich 21 Jahre alt, sieht diesen Film - gemeinsam mit ihm - sieht ihn auf der Leinwand, wie er all diese Dinge offenbart und versteht es plötzlich - ich glaube, so ist das manchmal mit der Kunst. Als ich also seine Ambitionen durch den Film wirklich erkannte und das Archiv selbst auf dem Bildschirm sah, da wurde mir klar, dass ich eine Geschichte über die Familie meines Vaters durch seine technologischen Vorhaben erzählen wollte.
Etwa 2017 begann er dann an der konkreten Technologie zu arbeiten, die schließlich "FredBot" wurde, bei deren Entstehung ich mithalf und mit der ich dann interagieren konnte. Am Anfang war es also nur das abstrakte Vorhaben meines Vaters, mit der Kraft der Technologie meinen Großvater "wiederauferstehen" zu lassen, was sich dann jedoch zu diesem sehr konkreten Anwendungsfall, einer Art frühem "Large Language Model" entwickelte, das ich mithalf aufzubauen. Das war deshalb eine so spannende Geschichte, weil etwas Theoretisches nun zu etwas ganz Praktischem wurde. Und wenn das passiert, kommen die philosophischen Aspekte rund um Transhumanismus und Untersterblichkeit wirklich zum Tragen und im Angesicht der letztlich entstehenden Sache wirken diese philosophischen Ideen plötzlich anders.
Also suchte ich nach neuen Ansätzen, um diese Technologie zu verstehen, denn mir war ziemlich klar, dass es sich nicht wirklich um echte Unsterblichkeit, aber womöglich um etwas anderes handelte. Und genau das versuchte ich mit meinem Buch genauer zu erforschen.
Der Titel von "Artificial" führt in der deutschen Übersetzung den Zusatz „Mit KI zur Unsterblichkeit“. Das Buch stellt die Frage in den Raum, ob künstliche Intelligenz – in Gestalt eines Chatbots – die Möglichkeit bietet, sich mit verlorenen, geliebten Menschen wiederzuverbinden. Ist es nicht aber vielleicht eher so, dass der Prozess des Erstellens vom "Fredbot", die Recherche, die gemeinsame Zeit mit deinem Vater in genau diesem Kontext, eine viel stärkere Verbindung zu deinem Großvater geschaffen hat, als es vielleicht der letztliche Chatbot tat?
Ganz genau. Das ist eine sehr treffende Lesart meines Buches. Es soll die Möglichkeiten der Technologie und ihre zukünftigen Auswirkungen keineswegs kleinreden, aber bei diesem konkreten Projekt war es für mich persönlich vor allem die Unsterblichkeit der Erinnerungen und des Geistes, die ich mir durch meine eigene Auseinandersetzung mit der Thematik erarbeitet habe.
Man bekommt im Leben nichts geschenkt – man muss sich einbringen. In meinem Buch ziehe ich eine Parallele zwischen der Technologie des Chatbots und meinem eigenen künstlerischen Prozess. Oft empfand ich mich beim Arbeiten fast selbst wie ein Algorithmus. In den Zeichnungen des Buches sieht man viel Wiederholung, Dichte und Detail. Ich dachte über mich im Verhältnis zu einem Algorithmus nach und inwiefern dieser sehr körperliche Dokumentationsprozess und all die Zeit, die ich in den Archiven und beim Zeichnen verbrachte, letztlich eine Verbindung zu meinem Großvater schufen.
Der Algorithmus kann diese Arbeit nicht für mich übernehmen, weil eine Beziehung immer im menschlichen Bewusstsein stattfinden muss. Es ist natürlich möglich, dass zukünftige Technologien eine dynamischere Erfahrung Verstorbener vermitteln. Aber Bedeutung wird es nur dann wirklich haben, wenn wir auch selbst Mühe in den aktiven Austausch mit der Technologie stecken. Das halte ich für wichtig, denn Chatbots sind nicht passiv. Wann man mit einem solchen interagiert, ist es nicht so als würde man bloß einen Film schauen. Hier liegt viel an interessantem Potenzial, Menschen diese dynamischen Erfahrungen zu ermöglichen, wenn sie sich mit solchen Archiven konfrontiert sehen. Aber ich denke, diese Erfahrung muss dann eine kreative, eine künstlerische sein und ich hoffe, dass diejenigen, die sich für diese Technologien interessieren, über genau diese Aspekte nachdenken, wenn sie versuchen, das Erbe verstorbener Menschen am Leben zu erhalten.
Als Cartoonistin, so beschreibst du es selbst, hast du bereits die Fähigkeit durch Raum & Zeit zu reisen und das Unmögliche möglich werden zu lassen. Mit deinem Buch "Artificial" hast du die Geschichte deines Großvaters, deines Vaters und auch von dir verewigt. Ist es nicht also viel eher die Kraft der Kunst, deiner künstlerischen Arbeiten die letztlich – mindestens im metaphorischen Sinne – deine Familiengeschichte unsterblich werden lässt und nicht die künstliche Intelligenz?
Ja. Ich glaube, das ist meine Voreingenommenheit als Künstlerin. Denn eine der Missionen des Buches ist es, KI als Erweiterung menschlicher Kunstfertigkeit zu begreifen. Mit dem Titel "Artificial" (dt.: "künstlich") versuchte ich mich auf sowohl "Kunst" als auch "Künstlichkeit" zu beziehen und über eine Definition des Wortes "künstlich" nachzudenken, welches ja letztlich bedeutet, dass etwas durch menschliche Hand erschaffen wurde. Und natürlich ist mein Buch per Hand gezeichnet. Ich selbst als Künstlerin hänge sehr an den haptischen Werkzeugen, aber das ist nur meine persönliche Präferenz. Ich mag Bleistifte, Füller und Tinte, Aquarell und Bücher und auch mein Vater liebt all diese Dinge. Und was in diesem Kontext KI anbelangt, denke ich, täten wir alle gut daran, sie als Erweiterung menschlicher Kunstfertigkeit zu verstehen.
Denn so wird sie nicht immer genutzt oder betrachtet. Ich denke, die Welt wäre vielleicht ein besserer Ort, wenn in KI-Kreationen mehr künstlerischer Geist stecken würde. Dieses Buch ist jedenfalls mein Beitrag dazu. Viele Leute sagen: "Auf dem Cover steht, es gehe um künstliche Intelligenz, aber so ist es gar nicht wirklich." Und dann antworte ich: "Genau, es geht darum, wie künstliche Intelligenz in eine viel umfassendere Geschichte passt, eine Geschichte kreativer Innovation."
Dein Vater hat Maschinen entwickelt, die das Leben von Menschen extrem bereichert haben - auch in kreativer Hinsicht. Bei Google hat er jedoch intensiv an der Entwicklung künstlicher Intelligenz gearbeitet und gerade in den letzten Jahren hat es rasante Fortschritte, auch in der Erstellung kreativer Inhalte gegeben, die die Existenz ganzer Berufsgruppen bedroht. Davon wärst du unmittelbar betroffen. Beunruhigt dich das und du sprichst darüber mit deinem Vater?
Ich rede ständig mit allen darüber, weil es mir solche Sorgen bereitet. Und auch mit meinem Vater habe ich Gespräche über diese Thematik geführt. In mancher Hinsicht haben wir dabei unterschiedliche, aber ebenso auch ähnliche Ansichten. Ich sehe einen echten Mangel an Kreativität, wenn es darum geht KI als mehr als eine Bedrohung für Arbeitsplätze zu begreifen, die alles tut, was Menschen bisher taten, nur schneller. Das ist grundsätzlich kein besonders kreativer, künstlerischer Ansatz. [...]
Denn besser bedeutet lediglich schneller auf dem technokapitalistischen Markt und gerade in den USA sind wir förmlich süchtig nach Effizienz und Produktivität. Nach dieser Logik ist viel menschliche, künstlerische Arbeit bereits bedroht und das ist sehr ärgerlich und schlecht für die Künstlerinnen und Künstler, die versuchen Geld zu verdienen. Allerdings ist das keine zwangsläufige Folge, nur weil diese Werkzeuge existieren. Der kreativere Weg, diese Werkzeuge zu nutzen, wäre, etwas Neues mit ihnen zu schaffen - nicht nur das, was ein ohnehin Mensch kann, sondern das, was ein Mensch eben nicht kann. Lassen wir die KI und den Menschen doch zusammenarbeiten und etwas entstehen, das wirklich einem gemeinsamen Miteinander gleicht.
Es gibt bereits digitale Künstlerinnen und Künstler, die meiner Meinung nach diese neuen Formen bereits unter Beweis stellen. Sie nutzen KI, sie programmieren, sie arbeiten generativ, aber dann verändern sie auch etwas. Es entsteht ein sehr dynamischer Prozess, der unglaublich interessante neue Dinge hervorbringt, die wir ohne diese neuen Werkzeuge nicht entstehen lassen könnten. So sollte man sich KI nähern. Man sollte sich fragen: "Was wird dadurch möglich?"

Ich stelle es mir als eine Art Kunstform vor, die menschliche Daten zu ihrer Farbe werden lässt, was ich für total interessant halte. Was könnte man mit diesem Farbeimer voller menschlicher Daten anstellen? Es ist wie ein Werkzeug, aber eines mit Eigenschaften, die wir bei keinem anderen je zuvor gesehen haben. Ich mag diesen Gedankenrahmen, aber halte es für ebenso wichtig zu erkennen, wie grundlegend anders dieses neue Werkzeug doch ist. Es ist eher wie eine Art Zauberstab. Es gibt jedenfalls keinen Grund, warum wir Menschen ersetzen müssten. Wir alle halten es für selbstverständlich, dass ein Computer eine Aufgabe übernehmen sollte, nur weil er es kann. Ich verstehe überhaupt nicht, warum das so sein sollte. Ich vermute, die Antwort lautet: Effizienz und deshalb müssen über dieses Paradigma für unsere Entscheidungen hinauswachsen.
Du hast mit deinen beiden Büchern einmal die mütterliche Seite und einmal die väterliche Seite deine Familie beleuchtet. Ist damit ein Kreis für dich geschlossen und du widmest dich nun künstlerisch etwas neuem oder wirst du weiterhin als Memoir-Cartoonistin arbeiten?
Das ist eine gute Frage. Ich mache jetzt erstmal eine Pause, was mich selbst anbelangt. Am College habe ich gelernt, dass man immer zwei Geschichten schreibt. Eine über die eigene Mutter, die andere über den Vater und dann schreibt man diese Geschichten einfach immer und immer wieder für den Rest seines Lebens. (lacht)
Das habe ich nun jedenfalls hinter mich gebracht. Aber ich schreibe nun Sachbücher über andere Menschen. Ich nutze das, was ich als Autorin von Memoiren gelernt habe, um mich in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Geschichten, die ich für aktuell in diesen Zeiten halte. Eine wichtige Geschichte, die ich letztes Jahr veröffentlicht habe, handelte von zwei Friedensaktivisten, einem Israeli und einem Palästinenser. [...] Ein weiteres Stück, das ich gerade erst beendet habe, handelt von meinem Cousin, der eine dramatische Erfahrung machte, als er in Myanmar vom Militär inhaftiert wurde, weil er Journalist ist. Er war politischer Gefangener und wurde dann schlussendlich wieder freigelassen. Ähnliche Arbeiten habe ich bereits in Planung.
Im Grunde möchte ich also das anwenden, was ich über das Verstehen von Berichten und Dokumentationen aus erster Hand gelernt habe, um mich so auch weiterhin in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Ich möchte Geschichten erzählen, die sich für mich relevant anfühlen. Für eine Welt, in der so viel Angst vor Politik und Krieg herrscht. Das hilft auch mir, eine Möglichkeit zu haben, mich mit diesen Thematiken auseinanderzusetzen.
Und irgendwann werde ich mich dann der Belletristik zuwenden. Das ist mein Weg in die Fantasie. (lacht) Daran hoffe ich, arbeiten zu können. Ich bin auf dem Weg dorthin.
Das klingt fantastisch. Vielen Dank für das Gespräch!
Wer noch mehr über die Arbeit von Amy Kurzweil erfahren möchte, findet hier den Link zu ihrem Instagram Account, auf dem ihr unter anderem auch zahlreiche der Cartoon findet, die sie im berühmten New Yorker Magazine veröffentlicht: