ROUTINE UND REVOLUTION
- kulturschnack
- 21. Aug.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Sept.
Die Auftakt-Pressekonferenz für das Internationale Filmfest Oldenburg ist ein liebenswertes Ritual: Der Ablauf ist stets derselbe, viele Teilnehmende kennen sich bereits aus den Vorjahren. Die Atmosphäre ist entspannt und familiär. Und dennoch liegt leichte Aufregung in der Luft. Schließlich gibt es trotz der Routinen jedes Mal viel Neues zu hören und erstmals auch den legendären Trailer zu sehen. Wir haben für euch genau hingehört - und geschaut!

Für den Hauptdarsteller ist alles Routine. Eingehüllt vom obligatorischen Zigarettenqualm plaudert Festivalchef Torsten Neumann in der Sonne vor dem Casablanca Kino noch kurz vor Beginn des Pressetermins entspannt mit seinen Gästen. Kein Wunder: Bereits zum 32. Mal hat er zur traditionellen Auftakt-PK geladen, um den Startschuss für die heiße Phase des Internationalen Filmfestes einzuläuten, das etwa einen Monat später - vom 10. bis 14. September 2025 - stattfinden wird.
Und doch ist ihm eine gewisse Anspannung anzumerken, ein leichtes Kribbeln unter seiner Haut zu spüren. Warum? Nicht etwa, weil ihn irgendetwas nervös machen würde. Dafür bräuchte es nach drei Filmfest-Dekaden deutlich mehr als nur eine Pressekonferenz. Die Anspannung hat einen anderen Grund: Trotz aller Routinen und gewisser Wiederholungen ist das Oldenburger Festival ein aufregendes, provokantes und selbst für Beteiligte überraschendes Ereignis geblieben. Bis zu einem gewissen Grad ist es gezähmt, in seinem Wesen bleibt es jedoch wild. Dieses Ereignis vorzubereiten - und mitzuerleben - bleibt eine wunderbare Mischung aus Herausforderung und Genuss. Für Torsten - und für uns!
32. INTERNATIONALES FILMFEST OLDENBURG
10. BIS 14. SEPTEMBER 2025
VORAB-EVENTS:
21. AUGUST 2025 „INVASION OF THE BODY SNATCHERS“ POLYESTER KLUB
1. SEPTEMBER 2025 TRAILER SHOW & START DES VVK OPEN AIR KINO
KULTURPLATZ 4. SEPTEMBER SECRET SCREENING
Oldenburg liebt sein Filmfest
Es ist jedoch leicht zu verzeihen, dass der Ablauf der Pressekonferenz wie in Stein gemeißelt scheint. Denn erstens ist das Casablanca das perfekte Setting für das Event und bietet feinste Kinoatmosphäre. Und zweitens soll nicht der Kanal strahlen, sondern der Inhalt. In diesem Fall also: Das Festival und seine Filme. Und genau so sollte es auch bei der 32. Auflage kommen.
Bevor es soweit war, verkündete Torsten Neumann noch einige Veränderungen bei den Unterstützer:innen und Sponsoren. Was bei diesem Pflichtprogramm auffällt: Sowohl die Zahl auch auch das jeweilige Engagement wachsen - unter anderem auch bei der Stadt Oldenburg, wie Roland Hentschel als Vertreter der Wirtschaftsförderung betonte. Der Rat hatte für dieses Jahr eine Erhöhung der Förderung beschlossen. Aber auch Pasrtner wie das Hiive Hotel engagieren sich noch stärker. Es sind also keinerlei Ermüdungs-Erscheinungen zu erkennen, was den Support für das Internationale Filmfest angeht. Im Gegenteil: Die ganze Stadt scheint ihr Festival zu lieben.
Die Begeisterung erstreckt auch übrigens auch auf die Kulturszene. Das Filmfest findet eben nicht nur in den traditionellen Kinos statt, sondern darüber hinaus im Theater k und im Oldenburgischen Staatstheater. Das unterstreicht: Während der fünf Filmfest-Tage ist zwar alles anders als sonst - das Festival ist aber trotzdem kein Monolith, der kommt und wieder geht. Es ist bestens vernetzt und viele Akteure aus der ganzjährig aktiven Szene freuen sich auf diesen kurzen Ausnahmezustand im Frühherbst, selbst wenn das Festival theoretisch Konkurrenz zu eigenen Spielplänen bedeutet.

Die Wertschätzung zeigte sich aber auch anhand eines besonderen Gastes. Bei der Pressekonferenz war nämlich die charismatische laotische Filmemacherin Mattie Do dabei. Sie wurde 2021 als erste professionelle Filmemacherin ihres Landes mit einem Tribute geehrt und besucht seitdem regelmäßig das Festival an der Hunte. Da sie in diesem Jahr zwar mit einem Kurzfilm vertreten ist, aber selbst nicht kommen kann, schaute sie kurzerhand nach einem Besuch beim Filmfest in Locarno vorbei. In einem kurzen Talk mit Torsten gab sie eine charmante Liebeserklärung an Oldenburg ab - und zeigte einmal mehr, dass der Reiz des Filmfestes nicht nur nach innen wirkt, sondern viel stärker noch nach außen, in die weite Kinowelt.
Der Schwerpunkt Irland
Das Programm des Internationalen Filmfestes ist selbst vier Wochen vor Beginn keineswegs ausdefiniert. Vieles befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch im Fluss, entscheidet sich erst auf der Zielgeraden, manchmal erst Stunden vor dem Beginn. Da heißt es: Nerven behalten! Doch vieles ist auch Mitte August bereits spruchreif, so dass Torsten schon einige Highlights verkünden und damit selbst die erfahrenen Pressevertreter:innen neugierig machen kann.
Eher zufällig ergab sich dabei ein spannender Schwerpunkt des diesjährigen Festivals: Gleich drei Filme aus Irland sind in diesem Jahr vertreten, so dass der Festivaldirektor von einem „Spotlight Ireland“ sprach und einen irischen Abend ankündigte, zu dem womöglich die irische Botschafterin Maeve Collins anreist. Als Highlight ist „Re-Creation“ vom mehrfach Oscar-prämierten Altmeister Jim Sheridan dabei, an dessen Besuch in Oldenburg derzeit noch gearbeitet wird. Sicher dabei hingegen ist John Connors, der es tatsächlich geschafft hat, an allen drei Filmen beteiligt zu sein: Neben seinem Auftritt in „Re-Creation“ spielt er im Psychiatrie-Liebesdrama „Crazy Love“ eine Hauptrolle und ist auch im schwarzhumorigen Familienepos „Horseshoe“ zu sehen. Beim Namen Connors klingelt etwas? Kein Wunder: John war 2022 mit seinem Film „The Black Guelph“ in Oldenburg zu Gast und räumte den German Independence Award ab. Auch wir haben den Film damals gesehen.

INTERVIEW MIT TORSTEN NEUMANN
KLEINE PROVOKATIONEN
Anlässlich des Jubiläums zum 30. Internationalen Filmfest im Jahr 2023 haben wir Festivalchef Torsten Neumann mit einigen Provokationen konfrontiert. Manche Vorurteile über das Filmfest halten sich schließlich überraschend beharrlich. Wir haben ihm die Chance eröffnet, sie zu entkräften - was ihm mit einer Mischung aus Humor und Nonchalance gelungen ist.
|
Junges, mutiges, wildes Kino
Bei den Vorstellungen der weiteren Filme ist ein Schauspiel zu erleben, das sich ebenfalls alljährlich wiederholt, seinen eigentümlichen Reiz aber nie verliert. Und zwar ist der Festivalchef - der in seinem Leben bereits viele tausend Filme gesehen haben dürfte - jedes Mal aufs Neue authentisch begeistert von den Werken, die er für Oldenburg gewinnen durfte. Hier gilt das gleiche Prinzip wie fürs Festival: Von Abnutzungs-Erscheinungen keine Spur. Und so hört man ihn gerne zu, wenn er sich aufrichtig auf die Filme und die Begegnung mit ihren Macher:innen freut - wie zum Beispiel diese:
Good Boy (USA 2025, R: Ben Leonberg)
Ob der Hauptdarsteller von „Good Boy“ nach Oldenburg kommen wird, ist noch offen, denn dabei handelt es sich um einen Hund. „Der Film hat beim SXSW Festival in Austin, Texas für mächtig Furore gesorgt“, weiß Torsten. Allerdings nicht, weil der Hund unglaublich possierlich wäre. Vielmehr handele es sich beim Film um klassischen „Haunted House“-Stoff, also um einen Grusel- bzw. Horrorfilm. Der aber sei konsequent aus der Perspektive des Hundes inszeniert. was alles verändere. Torsten ist sich sicher: „Der Film wird alle berühren, da werden Tränen fließen.“
The Girl in the Snow (Frankreich 2025, R: Louise Hémon)
Große Vorfreude herrscht beim Festivaldirektor auch hinsichtlich des französischen Films „The Girl in the Snow“ von Louise Hémon. Hinter dem schlichten Titel verbirgt sich ein geradezu episches Drama: Eine junge Lehrerin kommt im Jahre 1899 in das abgelegene, schneebedeckte Dorf Soudain in den Alpen. Die aufgeklärte Intellektuelle fremdelt mit ihrer neuen Heimast ebenso wie etliche Einheimische mit ihr. Inmitten einer prachtvollen, aber rauen Natur, die eingefangen wird in stimmungsvolle, oft düstere Bilder, nehmen schließlich geheimnisvolle Geschehnisse ihren Lauf. „Das ist einer der besten Filme, die ich dieses Jahr in Cannes gesehen habe“, legt sich Torsten fest und weckt damit ganz bewusst große Erwartungen.

Broken Voices
Tschechien 2025, R: Ondřej Provazník
Seine Geschichte um die 13-jährige Karolina siedelt „Broken Voices“ in der alten Teschoslowakei der frühen 90er Jahren an: zwischen neugewonnener Freiheit und den bedrückenden Restriktionen. Mit ihrem Talent erregt das junge Mädchen in einem streng geführten, renommierten Mädchenchor die Aufmerksamkeit des Chorleiters und die Eifersucht der anderen Mädchen. Bei seiner Premiere wurde der Filme mit stehenden Ovationen gefeiert, Kateřina Falbrovás wurde für ihre Darstellung der Karolina besonders erwähnt. „Das ist eine heiße Empfehlung für ein ganz besonderes Filmerlebnis“, ist auch Torsten Begeistert von „Broken Voices“.
Beeindruckte bei der Premiere: Der tschechische Film „Broken Voices“ gehört auch beim Oldenburger Filmfest zu den „Musst-Sees“. (Still: IFFO)
Harakiri, I Miss You
Spanien 2025, R: Alejandro Castro Arias
Mit Alejandro Castro Arias zeigt ein aufregender neuer Regisseur aus Spanien seinen Debütfilm als Weltpremiere in Oldenburg. Das Setting: Drei Freunde, ein Tag, unzählige Emotionen. Zwischen Frust und Verlangen tastet sich der Film an die ungeschminkte Wahrheit von falsch verstandener Männlichkeit, Intimität und Freundschaft heran. Ein kluger und gnadenloser Blick auf das Verhalten, das uns formt. Alejandro Castro Arias‘ Debüt unterwandert alle Erwartungen an eine klassische Coming-of-Age Story um drei tragische Helden, denen jegliche soziale Kompetenz verloren gegangen ist. „Das ganze passiert aber ohne erhobenen Zeigefinger“, ordnet Torsten ein. Vielmehr habe man Mitleid mit den Figuren. Ihr auch? Das könnt ihr nur im Kino herausfinden.

Gunman
(Argentinien 2025, R: Cris Tapia Marchiori)
Faszinierend wird auch das Seherlebnis bei „Gunman“ sein, das im argentinischen Original „Gatillero“ heißt. Der Film des „wahnsinnig spannenden jungen Regisseurs“ Cris Tapia Marchiori wurde nämlich im One Take-Verfahren abgedreht, das heißt, er kommt ohne (sichtbare) Schnitte aus. Dieses Verfahren sorgt für eine unglaublich dichte Atmosphäre, wie das bekannte Beispiel „1917“ von Sam Mendes zeigt, das uns auf diese Weise direkt in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs versetzte. Doch auch das Filmfest selbst hat Erfahrungen in diese Richtung: Im Jahre 2014 gewann der tschechische Beitrag „Hany“ den German Independece Award, der ebenfalls mit einem Take auskam und uns eine wie ein Sog in eine Prager Nacht.
Keep Quiet USA 2025, Vincent Grashaw
Hauptdarsteller dieses Films ist ein alter Bekannter: Lou Diamond Phillips, der 2017 in Oldenburg mit einem Tribute geehrt wurde. Mit dem Porträt eines von Schuld und Trauer geplagten Mannes, der versucht, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, liefert der mittlerweile 63-Jährige eine darstellerische Höchstleistung ab. „Mit zunehmendem Alter wird er immer besser. Der wid sicher bald einen Oscar gewinnen“, ist auch Torsten begeistert von der Performance. Nach „Bang Bang“ im letzten Jahr bringt Vincent Grashaw seinen nächsten Film nach Oldenburg – erneut mit einem legendären Schauspieler in der Hauptrolle und einer eindringlichen Geschichte vom Rand der Gesellschaft.

Mehr als nur Filme
Schon rein cineastisch wäre jede Vorfreude auf das 32. Internationale Filmfest Oldenburg vollauf gerechtfertigt. Kein Wunder, dass auch dieses Mal wieder tausende Oldernburer:innen die Kinosäle stürmen werden, um besondere Kinomomente zu erleben: jene, die etwas anders erzählt sind als es das Maibstreamkino tut. Die sich hier und da vielleicht etwas langsamer erschließen, die dafür aber eine emotionale Tiefe erzeugen, die Blockbuster oft vermissen lassen.

Neben den Filmen gibt es aber wie immer noch sehr viel mehr zu sehen. Ohne hier auf alle Events und Aktionen einzugehen, kann man dieses „mehr“ am besten mit der unvergleichlichen Atmosphäre beschreiben, die Oldenburg an diesen fünf Tagen im September bietet. Die Stadt ist internationaler, kreativer, urbaner als sonst - oder fühlt sich zumindest so an. Damit man dieses Gefühl aufnehmen und spüren kann, muss man nur eines tun: Eintauchen. Also nutzt die Gelegenheit, studiert ab dem 1. September das Programmheft, schaut euch Trailer an, lasst euch begeistern, wagt Experimente, probiert aus. Und: Traut euch, nach den Filmen Fragen zu stellen und mit den Akteur:innen ins Gespräch zu kommen. Beim Internationalen Filmfest Oldenburg sind nach unseren Erfahrungen ausnahmslos alle Gäste begeistert, wenn sie mit Euch über ihre Filme sprechen dürfen. Ihr bekommt dabei Einblicke, die ihr sonst nie gewinnen könntet.
Die Pressekonferenz zum Auftakt ist tatsächlich größtenteils Routine. Doch die Filme sind jedes Mal vollkommen andere als im Jahr zuvor - immer aufregend, manchmal spektakulär, hin und wieder sogar revolutionär. Der Fundus des Independent-Kinos scheint tatsächlich unerschöpflich. Deshalb stellt sich auch beim 32. Mal trotz mancher Gewohnheit keinerlei Langeweile ein. Das Filmfest naht, wir sind wieder mit dabei. Und ihr?