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TYPISCH FILMFEST!

Wenn man ins Kino geht, ist der Ablauf eigentlich klar: Man schaut einen Film und strickt eventuell etwas Programm drumrum. EINEN Film. Nicht zwei oder drei. Beim Internationalen Filmfest ist dieses Prinzip komplett ausgehebelt. Zwar strickt man auch hier Programm, doch das ist auf enge Zeitfenster begrenzt. Denn in diesen fünf Tagen im September schaut man eben nicht nur einen Film pro Tag, sondern tatsächlich: zwei oder drei.




Für die Fans ist es immer ein großer Moment: Wenn man zum ersten Mal das Programmheft in den Händen hält, schlägt das Herz höher. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist man neugierig, was in diesem Jahr laufen wird und das wird dort ausführlich beschrieben. Noch aufregender ist aber der Timetable im Mittelteil. Aus der Tabelle, die klar aufgliedert, was wann wo läuft, wird schnell eine Mischung aus Fahrplan und Landkarte. Durch die persönliche Filmauswahl kristallisiert sich heraus, wie der Abend verlaufen wird. Zumindest in Grundzügen. Denn vor Überraschungen ist man beim Internationalen Filmfest Oldenburg niemals sicher.


Wir haben uns beispielhaft für euch in einen Filmfest-Tag und eine Filmfest-Nacht gestürzt. Und ob Zufall oder nicht: Beides war ziemlich repräsentativ. Mit einer Ausnahme: Normalerweise hat das Filmfest schöne Herbsttage abonniert. Dieses Mal hat es gegossen. Aber letztlich ist das ja bestes Kinowetter.


 


FREITAG, 16:30 UHR

CHAGUO

KEN 2022 | 100 Min. | OmeU | International Premiere Director: Ravi Karmalker ,Vincent Mbaya

Cast: Nyokabi Macharia, Nick Kwach



Den Anfang unserer Tour macht „Chaguo“, der bereits durch seine Herkunft auffällt: Es ist ein kenianischer Film, der die Wahlen thematisiert, die im August diesen Jahres im ostafrikanischen Staat stattgefunden haben. Genaueres zur Handlung erfahrt ihr hier, den Trailer findet ihr hier. Initiatorin des Projekts war übrigens Dr. Annette Schwandner, die Ehefrau des früheren Oldenburger Oberbürgermeisters Prof. Dr. Gerd Schwandner. Die beiden leben mittlerweile in der kenianischen Hauptstadt Nairobi, da Annette Schwandner dort das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung leitet.


Aber zum Film: Das Besondere an ihm war nicht etwa der raubeinige Indie-Spirit. Weder das Konzept noch die Umsetzung waren besonders gewagt, schroff oder ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil: Rein technisch wirkte der Film wie hochwertiges TV-Material, das Mittwochabends in der ARD laufen könnte. Klingt unspektakulär? Ja, schon, aber trotzdem beginnen an dieser Stelle schon die Überraschungen.

In Plauderlaune: Das Produzententeam hatte einiges zu erzählen (Bild: Kulturschnack)

Denn erstens bewegt sich der Film absolut auf westlichem Niveau. Da sind keine Unterschiede zu Zentraleuropa oder den USA auszumachen. Und zweitens gilt das so ähnlich auch für die Ausstattung und die Drehorte des Films. Wenn man hätte tippen müssen, an welchem Ort der Film spielt, wären wohl die wenigsten auf Nairobi gekommen. Es hätte auch eine amerikanische Großstadt sein können. Szene für Szene werden hier also Vorurteile und Klischees widerlegt.


So richtig überraschend - im Sinne von: lehrreich - ist aber vor allem der Inhalt des Films. Bei den Wahlen ins vielen afrikanischen Staaten spielt nämlich die Stammeszugehörigkeit nach wir vor eine große Rolle; so groß, dass sie sogar lebensgefährlich werden kann. Tribalismus nennt man das und es ist bis heute ein großes Problem, das immer wieder zu Unruhen führt. Eine zentrale Rolle spielen außerdem die Familien. Selbst bei Erwachsenen gehört es dazu, dass man vor jeder großen Entscheidung seine Eltern um Rat fragt; auch dann, wenn man längst nicht mehr bei ihnen lebt. Genauso wichtig sind die Ratschläge der Kirchen. Sie mischen sich, wie Annette Schwandner erzählt, auch in die Wahlen ein und lassen sich von Kandidaten für Empfehlungen kaufen. Vor diesem Hintergrund ist es beinahe ein Wunder, dass die diesjährigen Wahlen erstmals weitgehend ohne Ausschreitungen abliefen. Wer weiß? Vielleicht hat „Chaguo“ einen kleinen Teil beigetragen.


TYPISCH FILMFEST #1


Am Ende eines sehr unterhaltsamen, insgesamt aber unspektakulären Films weiß man gar nicht, was am wichtigsten war: Die Handlung mit den persönlichen Dilemmata der Protagonisten? Das Setting, das uns lehrreiche Einblicke in eine andere Kultur gewährt? Oder die Informationen, die uns ein gut aufgelegtes Produzententeam mit auf den Weg gab? Egal, letztlich hat alles dazu beigetragen, dass man diese 100 Minuten an einem Freitagnachmittag gar nicht besser hätte nutzen können.


 


FREITAG, 19:00 UHR

LINOLEUM

USA 2022 | 101 Min. | OV | International Premiere

Director: Colin West

Cast: Jim Gaffigan, Rhea Seehorn, Katelyn Nacon, Gabriel Rush



Würde man diesen Artikel dramaturgisch möglichst spannungsvoll inszenieren wollen, müsste dieser Film eigentlich am Ende kommen. Denn eines steht schon an diesem Freitagabend fest: Mit diesem Film haben wir einen Höhepunkt des diesjährigen Filmfestes erlebt. Bei „Linoleum“ handelt es sich sogar um einen besten Filme, die wir hier in den letzten Jahren gesehen haben. Aber der Reihe nach.


Zunächst legten weder der unprätentiöse Titel noch das Bildmaterial (s.o.) nahe, dass das Werk von US-Regisseur Colin West absolut fantastisch sein würde. Spannender waren da schon die Hinweise auf die Story, die durchaus schon nahelegten, dass man es nicht mit einem ganz gewöhnlichen Streifen zu tun haben würde. Und genau so war es auch. Herausragende Darsteller:innen bewegen sich durch eine Handlung, die zunächst beinahe alltäglich erscheint, die sich aber durch verdichtende Vorzeichen langsam verändert und einen unheilvollen Verlauf zu nehmen scheint. Colin gibt uns aber vorab mit auf den Weg: Nicht ablenken lassen, mehr als andere ist es ein Liebesfilm.


Regisseur Colin White im gestenreichen Gespräch mit Buddy Giovinazzo (Video: Kulturschnack)

Die Mechanik des Films ist eigentlich altbekannt: Eine vermeintliche Idylle wird auf rätselhafte Weise gestört. Im Laufe des Film arbeiten sich beim Protagonisten:innen gemeinsam mit dem Publikum zur Auflösung vor. Häufig ist dabei Übersinnliches oder Außerirdisches im Spiel, bei „Linoleum“ trotz vieler Raumfahrt-Referenzen allerdings nicht. Und genau deshalb gelingt die Auflösung hier so wundervoll, aufregend, anrührend und überraschend, dass uns beinahe die Worte dafür fehlen.


Ist bereits die gesamte Handlung des Film stark gespielt und erzählt, überragt das Ende nochmal alles andere haushoch. Man wird mitgerissen in einem Sog aus ganz großen Themen, Emotionen und einem Feuerwerk an Aha-Momenten. „Mindfuck“ nennen die Amerikaner das und, ja, so fühlt es ich auch an.


TYPISCH FILMFEST #2


Seien wir ehrlich: Nicht jeder Film des Internationalen Filmfestes ist absolut herausragend. Zumal die Qualitäten oft im Auge des Betrachters liegen oder auch mit cineastischer Vorbildung zu tun haben. Ohne Zweifel finden Torsten und sein Team aber immer wieder Filme, die ganz einfach umwerfend sind und die meisten Multimillionen-Dollar-Produktion​ meilenweit hinter sich lassen. Sie greifen ganz große Themen auf, sind klug und kreativ inszeniert, bieten wunderbare Schauspieler:innen und berühren uns tiefgreifend. „Linoleum“ ist genau so ein Film. Ab Februar läuft er weltweit in Kinos, unbedingt ansehen!



 

FREITAG, 21:30 UHR

THE BLACK GUELPH

IRE 2022 | 125 Min. | OmeU | World Premiere

Director: John Connors

Cast: Graham Earley, Paul Roe, Tony Doyle, Denise Mc Dermott



Echte Filmfestfans werden ahnen, was jetzt kommt. Denn nach dem konventionell angelegten Film aus einem eher ungewöhnlichen Land, das uns viel über selbiges verrät und dem Indie-Überfilm, der uns Kraft und Zauber des unabhängigen Kinos vor Augen führt, fehlt noch ein typischer Vertreter des Repertoires: Der harte Szenefilm.


Damit sind nicht etwas Splatter- und Gore-Streifen gemeint, die früher gern in der Midnite Xpress-Reihe liefen, heute aber eher selten sind. Nein, hart sind vor allem jene Filme, die uns tief reinziehen in ein soziales Milieu, das noch ganz andere Probleme hat als eine erhöhte Heizkostenabrechnung. Und anders als die gängigen Blockbuster-Produktionen wird hier nicht alles von berühmten Hauptdarsteller:innen oder abenteuerlichen Entwicklungen überlagert, die vom Elend ablenken würde. Nein, wir sind direkt mit ihm konfrontiert.


Im Fall von „The Black Guelph“ scheint es zunächst um eine Milieustudie zu gehen. Junge Leute, Alkohol, Drogen, Dealen, Brutalität: Es ist eine Mischung, wie wir sie auch aus den Pariser Banlieues kennen, aus Compton oder der Bronx. Doch das ist nur ein Teil des Ganzen; und zwar der kleinere. Das größere Thema ist der Missbrauch Minderjähriger durch die katholische Kirche und örtliche Autoritäten in der irischen Provinz, der bis vor elf Jahren von der Justiz gedeckt wurde - und dessen Erbe sich wir ein Krebsgeschwür durch Generationen von Nachkommen frisst. Genauere Eindrücke bekommt ihr hier oder im Trailer.

Stolz auf die Weltpremiere im Casablanca: John Connors und sein Team (Bild: Kulturschnack)

Der Film nimmt sich sehr viel Zeit, uns ganz nah ranzulassen an die Ausweglosigkeit seiner Protagonisten. Jeder will sich verändern, keiner schafft es. Es ist ein bemerkenswerter Kontrast, als nach dem Film das gutgelaunte, freundliche Team zum Q&A nach vorne kommt, das Publikum aber noch fix und fertig ist von dem, was es zuvor gesehen hat. (Letztlich war es sogar so beeindruckt, dass es Bestnoten vergab: Wie am Sonntagabend verkündet wurde, gewann „The Black Guelph“ den German Independence Award 2022.)


Das klingt negativ? Ist es aber ganz und gar nicht! Es ist nötig, sich so intensiv mit solchen Themen zu beschäftigen, denn sonst tangieren sie uns nicht. Und lassen wir uns nicht tangieren, ändert sich viel zu lange viel zu wenig. Dass Oldenburg dieses starke Regiedebüt des irischen Schauspielers John Conners in einer Weltpremiere sehen darf - also noch vor dem irischen Publikum - ist ein Beleg dafür, dass dieses Filmfest eine hohe Bedeutung hat. Wir dürfen dankbar dafür sein.


TYPISCH FILMFEST #3


Sie sind ein roter Faden des IFFO: Die „harten“ Filme, die manchmal kaum auszuhalten sind, die uns aber verändert zurücklassen. Sie ziehen uns rein in eine andere Welt, so nah und so unmittelbar, dass wir keine andere Chance haben, als sie zu spüren und zu fühlen. Die Darsteller:innen sind so echt, dass wir sie zum Ende des Films zu kennen glauben. Und diese Nähe ist unbequem, weil die Welten und Themen, in die wir abtauchen unbequem sind, Aber: sie sind echt. Sie passieren. Und deswegen ist es eine Qualität des Filmfestes, diesem Genre so viel Raum einzuräumen. Es bereichert uns.



 


SAMSTAG, 1:10 UHR

THE SECRET PARTY

D 2022 | 300 Min. | OV | World Premiere

Director: Torsten Neumann

Cast: Everyone else

Irgendwo hier muss sie sein: Die Secret Party führt immer wieder an besondere Orte. (Bild: Kulturschnack)

Für manche ist sie der heimliche Höhepunkt des Internationalen Filmfestes, für andere einfach eine weitere von vielen Partys. Fest steht aber, dass die Secret Party am Freitag einigermaßen legendär ist, weil sie immer auf eine ungewöhnliche Location setzt, an der man sonst nicht feiern könnte, die sich aber als absolut geeignet dazu herausstellt. Und so durften wir schon in leerstehenden Tiefgaragen, Grundschulen, Gefängnissen, Polizeistationen, Kinos, Hotels, Knabenschulen, Feuerwehren und anderen ungenutzten Häusern feiern - und jedes Mal war es auf eine andere Weise ziemlich cool. Wo die Party dieses Mal war? Sagen wir nicht, ist doch geheim. Aber es ging ziemlich die Post ab.


TYPISCH FILMFEST #4


Partys gehören zur DNA jedes Filmfestes. Wer Gäste aus entfernten Ländern einlädt, will ihnen nach 20 Uhr schließlich kein verschlafenes Nest zeigen. Beim Internationalen Filmfest Oldenburg ist seit jeher dafür gesorgt, dass jeden Abend was los ist - mal ganz traditionell wie beim Marvin's, mal im ständigen Wechsel wie bei der Secret Party. Der rote Faden ist dabei, dass alles - wirklich alles - zu einer Party Location taugt. Und manchmal wissen selbst Eingeweihte nicht, wo es gerade am meisten abgeht. Aber das ist eben: typisch Filmfest.


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