Nichts ist älter als die Ankündigung einer Veranstaltung, die längst gelaufen ist. Nichts ist nutzloser als die Anzeige für ein Produkt, das man nicht mehr kaufen kann. Oder? Das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte tritt den Gegenbeweis an. Die neue Ausstellung „Grands Boulevards“ zeigt Plakate aus der Epoche des Jugendstils - und zeichnet nebenbei die Entwicklung von der Malerei bis zum Grafikdesign nach. Das ist in mehrfacher Hinsicht sehenswert!
Nein, an Marketing denkt man nicht unbedingt als allererstes, wenn man die neue Ausstellung „Grands Boulevards“ des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte betritt. Man wird empfangen von einer Straßenszene samt Geräuschkulisse und Litfaßsäule. Die Botschaft: Hier geht es um die Kunst der Straße, nämlich um Plakate. Genauer gesagt: um die „Plakatkunst des Jugendstils“, also aus der Zeit um das Jahr 1900 herum. Und die Plakate hingen damals, genau, an den Grands Boulevards der großen Metropolen. Sie glichen daher zeitweise Ausstellungsräumen unter freiem Himmel.
Trotz des klaren Bezugs zum öffentlichen Raum ist die Ausstellung mehr als das, wie sich schnell zeigen wird. Denn die Straßenszene setzt nur den Kontext, im weiteren Verlauf hat man die Möglichkeit, in aller Ruhe in die Plakatkunst jener Zeit einzutauchen. Und genau das hat sie verdient, denn die Entwicklung der Gestaltung diese wenigen Jahrzehnte ist viel mehr als nur eine künstlerische. Und deshalb ist der Untertitel der Ausstellung zwar vollkommen korrekt - aber eigentlich nur eine Andeutung dessen, was wirklich zu sehen ist.
GRANDS BOULEVARDS PLAKATKUNST DES JUGENDSTILS
22. OKTOBER 2022 - 22. JANUAR 2023 DIENSTAG BIS SONNTAG 10 BIS 18 UHR
LANDESMUSEUM FÜR KUNST UND KULTURGESCHICHTE
OLDENBURGER SCHLOSS
26122 OLDENBURG
Glück gehabt!
Seinen wir ehrlich: Hört man die Bezeichnung „Plakatkunst der Jugendstils“, lässt man nicht augenblicklich alles stehen und liegen, um die Ausstellung sofort zu sehen. Dabei sollte es genau so sein. Denn was ist eigentlich Plakatkunst? Doch immerhin die präsenteste aller Kunstformen, die unseren Alltag nicht nur begleitet, sondern sogar prägt - und zwar nicht nur auf Pappe und Papier, sondern zunehmend auch als Pixel.
Trotzdem ist es keineswegs selbstverständlich, dass es einen größeren relevanten Bestand an entsprechenden Werken gibt. „Wir haben großes Glück, dass wir diese Ausstellung zeigen können“, berichtet Museumsleiter Dr. Reiner Stamm. „Die Menschen bewahren gerne Bibeln und andere besondere Bücher auf. Davon gibt es reichlich.“ Alltäglichere Gebrauchsformate wie Prospekte oder eben Plakate seien viel seltener archiviert worden und deshalb vergleichsweise rar. „Das macht sie heute umso wertvoller“, betont der Experte.
Qual der Wahl
Die Ausstellung wurde aber nicht von ihm konzipiert, sondern von der wissenschaftlichen Volontärin Dr. Kathleen Löwe. Sie sichtete den opulenten Bestand des Spenders, dem Architekten und Baubeamten Adolf Rauchheld (1868-1932). Er hatte seine private Sammlung bereits im Jahr 1924 dem Landesmuseum vermacht, nur ein Jahr nach dessen Gründung. Der ehemalige Oldenburger Stadtbaurat hatte ein großes Gespür für Ästhetik: Er war unter anderem verantwortlich für die Stammsitze von LzO und OLB, für Amalien- und Cäcilienbrücke und für das Wasserkraftwerk an der Hunte.
Er war aber noch mehr, nämlich ein begeisterter Sammler zeitgenössischer Plakate. „Wir haben etwa zweihundert Werke im Depot. Das Schwierigste an dieser Ausstellung war zweifellos die Auswahl“, schmunzelt Kathleen Löwe. Zu sehen sind letztlich 120 Werke, die einen sehr guten Überblick von den Anfängen bis zur Überwindung des Jugendstils bieten.
Dabei schreitet man chronologisch durch die Jahrzehnte. Klar erkennbar wird dadurch die Entwicklung, die sich bei der Gestaltung der Plakate vollzieht. Die eher blumige Fülle der Frühphase reduziert sich sukzessive, wir zunehmend klarer und gewinnt an Kontur. Es ist erstaunlich, wie weit sich in dieser kurzen Phase des beginnenden 20. Jahrhundert bereits Gesetzmäßigkeiten herauskristallisieren, die heute noch Bestand haben.
WIESO EIGENTLICH „JUGEND“? Für viele ist der Jugendstil ein Rätsel. Während beispielsweise die Gotik oder der Klassizismus relativ klare Vorstellungen wecken, sind etliche Menschen beim Jugendstil vergleichsweise ratlos. Am bekanntesten sind vielleicht florale - sprich: blumige - Ornamente an Gebäudefassaden. Aber was genau macht den Stil eigentlich aus? Und was daran ist jugendlich? Die Antwort lautet: Gar nichts. Mit Jugend im Sinne eines jungen Alters hat er nämlich nichts zu tun. Viel mehr nimmt der Name Bezug auf eine illustrierte Kulturzeitschrift, die so hieß. Die „Jugend“ erschien erstmals 1896 in München und verstand sich als moderne Gegenbewegung zum rückwärtsgewandten Historismus und zur seelenlosen Industrialisierung. „In anderen Ländern gibt es diese Begrifflichkeit gar nicht“, berichtet Museumsleiter Dr. Reiner Stamm. „Dort heißt der Stil Art Nouveau oder Modern Style.“ Anfangs war der Begriff noch kritisch-abfällig gemeint und wurde vornehmlich für modische Popularisierung und kunstgewerbliche Massenproduktion angewendet. Über die Kunstavantgarde setzte er sich aber zunehmend durch. Warum die Epoche dennoch schwer zu „greifen“ ist? Vielleicht wegen ihres Tempos: Sie selbst entwickelte und veränderte sich rasend schnell - so dass ihre Wesensmerkmale zu verschwimmen scheinen. Fest steht: Wer heute über bestimmte Merkmale von Ästhetik und Gestaltung spricht, bezieht damit oft auf den Jugendstil - häufig jedoch, ohne es zu wissen. Höchste Zeit also, diese Epoche stärker in den Mittelpunkt zu rücken.
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Drei gewinnt!
Der Ausstellung gelingt ein bemerkenswerter Spagat: Sie zeichnet nämlich nicht nur eine oder zwei Entwicklungen nach, sondern gleich drei. Zum einen eine ästhetisch-geschmackliche. Der Jugendstil selbst löste ja die Farb- und Formensprache früherer Epochen wie dem Historismus ab, machte aber auch selbst eine Wandlung durch. Zum anderen sind die Plakate Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen, da entsprechende Produkte auf ihnen beworben wurden. So gewinnt zum Beispiel das Fahrrad einen hohen Stellenwert, weil es für viele Frauen eine neue Unabhängigkeit bedeutete. Ebenso erkennbar sind technologische Innovationen wie etwa die Gasfernzündung der Gas-Glühlicht-Aktiengesellschaft.
Die dritte erkennbare Entwicklung ist jene des Marketing. Wurde auf den Plakaten am Anfang noch einfach das Produkt an sich beworben - sprich: „Trinkt Kaffee!“ oder „Raucht Zigaretten!“ - wuchs später die Bedeutung des Herstellers. Und mit dessen Namen verschob sich der gestalterische Schwerpunkt von den Objekten zur Typographie. Aus ihr sollten sich schließlich erste Logos entwickeln, die wir heute noch kennen. Dazu gehören zum Beispiel Pelikan oder Kaffee Hag.
Warum der Ausstellung dieser Dreifach-Effekt so mühelos gelingt, ist überraschend klar: Grafikdesign umgibt uns ständig und überall. Ob wir an der Bushaltestelle stehen oder auf dem Smartphone durch Feeds scrollen: Alles ist bewusst gestaltet. Mal nach allen Regeln der Kunst (sic!) perfekt aufeinander abgestimmt - mal offensiv dilettantisch. Doch ganz egal, wie etwas am Ende gestaltet ist - es ist in der Regel nicht zufällig passiert. Dieses Prinzip nahm seine Anfänge in der Epoche des Jugendstils - und lässt sich nahtlos bis in die Gegenwart verfolgen.
Ein visuelles Erlebnis
Wer „Grands Boulevards“ anschaut, bekommt ein Gespür für die Entwicklung eines künstlerischen Ansatzes hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Thematik. Wir sehen hier, wie aus realistischer Malerei mit Hang zu floraler Ornamentik im Laufe der Zeit immer klarere Formen wurden, die schließlich in Marken und Logos mündeten.
Genau das macht die neue Ausstellung des Landesmuseums so überaus faszinierend. Vordergründig schaut man auf Plakate - also eher: Gebrauchskunst - aus einer längst vergangenen Zeit. Tatsächlich aber lernt man beim Betrachten auch unsere heutige Welt viel besser zu verstehen und einzuordnen.
Die Inhalte von „Grands Boulevards“ wissen also zu überzeugen. Dass die Schau so gelungen ist, hat auch viel mit ihren - nun ja - Design zu tun. Die weißgerahmten Exponate wirken vor den in tiefem Lila gestrichenen Wänden sehr stark. Und das kann man gar nicht genug betonen. Die Schau ist ein visuelles Erlebnis, im Großen wie im Kleinen. Denn die Plakate wirken nicht nur aus der Distanz, sie verfügen zudem über viele Details, die sich erst bei näherer Betrachtung offenbaren.
Beim Gang durch die Ausstellung drängt sich eine weitere Frage förmlich auf: Wie viele einzigartige Kunstwerke landen heute wohl noch achtlos im Papierkorb der Geschichte, weil sie Veranstaltungen und Produkte bewerben, die bereits vergangen sind? Umso beachtlicher ist es, dass die Sammler:innen seinerzeit die Qualitäten erkannten und die Werke vor dem Vergessen retteten.
Das Beispiel Adolf Rauchheld ist sogar besonders spektakulär. Denn wer die Entwicklung seiner Bauwerke verfolgt, wird dort ebenfalls einen klaren Trend erkennen: Weg vom Historismus, hin zum Jugendstil, später sogar zum Expressionismus. Sein privates Sammlerinteresse und seine beruflichen Aufgaben standen also in einem direkten Zusammenhang - und verdeutlichen dadurch, wie allumfassend der Wandel in den Geschmäckern seinerzeit war.
Plakative Kunst
Dass Plakate auch heute noch als eigene Kunstgattung taugen, zeigte Ende 2020 übrigens auch der 1. Oldenburger Plakatherbst. Leider litt er stark unter den damaligen Corona-Bedingungen und verzeichnete deutlich weniger Besucher:innen als er verdient gehabt hätte. Dabei gilt grundsätzlich immer, was der Initiator Claus Spitzer-Ewersmann seinerzeit sagte:
„Plakate wirken nachhaltig. Sie fangen die Blicke der Betrachtenden ein, hinterlassen Eindruck und fordern unmittelbar zu einem Dialog auf. Das macht ihren Reiz und ihren Stellenwert aus.“
Nach wie vor haftet Plakaten das Image der Gebrauchskunst an, eben will sie allgegenwärtig sind und ihre Qualität strak variiert. Und manchmal sind sie nicht einmal das: Einige von ihnen sind reine Informationsträger. Doch greift diese Betrachtung viel zu kurz. Die Plakatgestaltung ist sehr wohl eine eigenständige Kunstform, die den Brückenschlag zwischen Ästhetik und Funktionalität schafft.
Das galt damals, zur Epoche des Jugendstils, das gilt aber auch heute. Denn geblieben sind die verschiedenen Ebenen, die anhand von Plakaten nacherzählt werden können. Deshalb ist zu hoffen, das es auch heute Sammler:innen wie Adolf Rauchheld gibt, die den Wert zeitgenössischer Plakate erkennen, sie sammeln und der Allgemeinheit zugänglich machen. Und wer weiß? Vielleicht hängt in einer Ausstellung des Jahres 2089 ein Plakat, das die Betrachter:innen zurückerinnern lässt an das Jahr 2022 - und wie damals alles war.
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