Der Wehrdienst ist aktuell eine freiwillige Angelegenheit. Zwischen 1956 und 2011 war das allerdings anders: Damals galt in Deutschland die Wehrpflicht. Junge Männer mussten - häufig entgegen ihrer Überzeugungen - den Dienst an der Waffe leisten. Was das mit Kultur zu tun hat? In ihrem Buch „Gegen mein Gewissen“ hat die Hamburger Comic-Künstlerin Hannah Brinkmann die inneren Konflikte und ihre Folgen thematisiert. Ihre beeindruckende Graphic Novel stellt sie nun an einem besonderen Ort vor.
Nein, ein Comicheft ist es nicht gerade. 232 Seiten ist „Gegen mein Gewissen“ stark und kommt im Hardcover daher. Schon allein dadurch signalisiert es, dass man es hier nicht etwa mit einer Variante von Donald Duck oder Asterix zu tun hat, sondern mit einer Graphic Novel. Einem Werk also, das einerseits zeichnerisch eigene Akzente setzt, andererseits aber auch durch sein Thema und seine Erzählung überzeugen will.
Der Hamburger Künstlerin Hannah Brinkmann gelingt beides. Die vielfach ausgezeichnete Autorin wählt relevante Themen aus, recherchiert die Hintergründe sorgfältig und erzählt ihre Geschichten ebenso informativ und interessant, fesselnd und faszinierend. Ihr Debüt „Gegen mein Gewissen“ arbeitet die tragische Geschichte ihre Onkels auf, der im südoldenburgischen Lindern lebte und dessen Kampf gegen die Wehrpflicht auch in Oldenburg spielte. Für die Lesung am 22. September reist Hannah nun erstmals an diesen Ort der Handlung.
LESUNG UND GESPRÄCH
HANNAH BRINKMANN: GEGEN MEIN GEWISSEN
SONNTAG, 22. SEPTEMBER, 17 UHR
JOCHEN-KLEPPER-HAUS
26135 OLDENBURG
EINTRITT FREI!
Theorie und Praxis
Es ist wahrlich kein einfacher Stoff, den Hannah sich für ihr Debüt ausgewählt hat, denn er behandelt ein Kapitel deutscher Geschichte, das bisher nur unzureichend behandelt wurde. Im Zentrum steht die allgemeine Wehrpflicht, die nur elf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingeführt wurde . Zwar lautete Artikel 4, Absatz 2 des Grundgesetzes: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Es gab also eine theoretische Möglichkeit, den Wehrdienst zu verweigern. Doch diese Verweigerung war mit hohen Hürden verbunden - die sich für manche als unüberwindbar herausstellten.
Lange Zeit - bis weit in die 1970er Jahre hinein - galt die Kriegsdienstverweigerung als „systemzersetzend“. Unter großem Druck und vielen Demütigungen musste die Verweigerer ihre Gewissensnot beweisen - und zwar vor „Gutachtern“, die häufig eine NS-Vergangenheit hatten und denen die Bundeswehr wichtiger war als das Wohl der Rekruten. Einer dieser jungen Männer war Hermann Brinkmann, der als überzeugter Pazifist 1973 eingezogen wurde. Vergeblich wehrte er sich gegen seinen Einberufungsbefehl - und nahm sich schließlich während der Grundausbildung das Leben. Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen und sorgte für eine Neubewertung der Verweigerung. Für tausende Betroffene gab diese Entwicklung jedoch zu spät.
Dramatik und Verzweiflung
Hannah Brinkmann gelingt mit „Gegen mein Gewissen“ Erstaunliches. Sie vermttelt ein authentisches Bild der Bundesrepublik jener Zeit - zwischen dem ultimativen Trauma des Weltkriegs und einer Rükkehr zu einer geordneten Normalität. Wie sich herausstellen sollte, wählten die staatlichen Organe auf der Suche nach dem richtigen Weg allzu oft die repressive Variante. Anhand ihres Onkels - den sie selbst nie kennenlernen konnte - zeigt Hannah die Zwänge, Nöte und Dilemmata von Menschen, die mit diesem neuen System wenig anfangen konnten und sich von ihm eingeschränkt und missachtet fühlten.
Erfolgreiche Autorin
Hannah Brinkmann im Kurzportrait
Wie gelingt es ausgerechnet einer jungen Frau, die Situation wehrpflichtiger Männer in den Sechziger und Siebziger Jahren einzufangen, obwohl sie erst zwei Jahrzehnte später geboren wurde? Indem sie drei entscheidende Kompetenzen einsetzt: Ihr Recherche-, Erzähl- und Zeichentalent.
Hannah Brinkmann wurde 1990 in Hamburg geboren. Sie studierte Grafische Erzählung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, an der Shenkar School of Engineering and Design in Tel Aviv und der EESI in Angouleme und absolvierte als Stipendiatin des DAAD am Royal College of Arts in London einen Master of Research in Fine Arts & Humanities.
2017 war sie Teil des Sitka Fellows Programm in Alaska, wo sie die Recherche für ihre erste Graphic Novel Gegen mein Gewissen begann. Ein Jahr später konnte sie diese Recherche im Rahmen eines dreimonatigen Stipendiums des Library Innovation Labs an der Harvard Law School beenden. Noch vor Veröffentlichung wurde ihr Comic-Debüt auf der Shortlist des Comicbuchpreises der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet. Hannah Brinkmann zeichnete unter anderem für das Strapazin, Taz, Tagesspiegel und war mit einer Comicreportage in Alphabet of Arrival, einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung, zu sehen.
Im Herbst 2024 erscheint ihr neues Buch Zeit heilt keine Wunden, eine Graphic-Novel über den Shoah-Überlebenden Ernst Grube, dessen bewegten Lebensweg sie zusammen mit dem Zeitzeugen recherchiert und aufarbeitet. Zeit heilt keine Wunden ist eins der Finalist*innen Werke des Berthold-Leibinger-Preises 2024. Hannah Brinkmann ist 2024 eine der Comic-Stipendiatinnen des Deutschen Literaturfonds.
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Sowohl zeichnerisch als auch erzählerisch führt uns Hannah nah heran an die damalige Zeit, vorherrschende Denkweisen und Gesetzmäßigkeiten - die zum Teil nahtlos an die Mentalität des Nationalsozialismus anknüpften. Die junge Künstlerin beleuchtet sehr genau, was die neue gesellschaftliche Konstruktion für Menschen bedeuten konnte, für die persönliche Freiheit mehr zählte als ein funktionierendes System.
In einer ausführlichen Besprechung des Buchs ist Rudi Friedrich vom Connection e.V. - einem Verein, der sich weltweit für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure einsetzt - voll des Lobes: „Die feine Verbindung der Zeichnungen mit dem Text kreiert eine neue Erzählebene, die Geschichte, Dramatik und Verzweiflung von Hermann Brinkmann sehr anschaulich macht. Hier wird Geschichte erlebbar und durch den persönlichen Bezug geradezu erfahrbar.“
Geschichte trifft Gegenwart
Diese Verbindung bekam zuletzt einen besonderen Stellenwert, denn In den letzten Monaten ist das Thema Wehrpflicht plötzlich wieder auf die politische Tagesordnung gerückt. Mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine - nur 1.300 Kilometer östlich von Oldenburg - kam wieder Bewegung in die entsprechende Debatte. Unter anderen zeigten sich Verteidigungsminister Boris Pistorius und die Wehrbeauftragte Dr. Eva Högl aufgeschlossen gegenüber einer Rückkehr zur Wehrpflicht. Die Lesung in Oldenburg kommt also genau zum richtigen Zeitpunkt.
„Ich wollte mit dem Buch auch junge Leute erreichen“, betont Hannah. Sie stünden aktuell zwar nicht mehr vor der Entscheidung, ob sie Wehrdienst oder Zivildienst ableisten wollen, aber: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Wehrpflicht nur ausgesetzt ist und mit jedem Konflikt und Krieg auch immer wieder die Debatte über die Wehrpflicht ins Parlament zurückkehrt.“
Es sei wichtig, dass sich Jugendliche mit diesem Thema auseinandersetzten, um sich eine fundierte Meinung zu bilden, findet die 34-Jährige. Sie sorge sich, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt werden könnte und auf Jugendliche treffe, die sich nicht ausreichend damit beschäftigt hätten. „Ich denke, 'Gegen mein Gewissen' kann helfen, eine Auseinandersetzung mit dem Thema zu beginnen und daraufhin mehr Informationen und Aufklärung zu suchen“, ordnet Hannah ein. „Gleichzeitig glaube ich, dass das Buch ein Bild vom Pazifismus zeichnet, das wir nicht vergessen dürfen. Das Buch lädt auch dazu ein, sich darüber Gedanken zu machen, was Pazifismus für den Einzelnen bedeutet.“
Tatort Oldenburg
Dass Hannah mit ihrem Buch nach Oldenburg - genauer gesagt: ins Jochen-Klepper-Haus - kommt, ist dabei alles andere als ein Zufall. Denn ein Teil der Geschichte von Hermann Brinkmann spielte an der Bremer Straße. Dort, wo einst die Dragonerkaserne stand, befand sich zu seienr Zeit das Kreiswehrersatzamt. Allein der Name sprach Bände: der Mensch wurde hier zum „Wehrersatz“, also bereits durch den Titel seiner Persönlichkeit beraubt. In diesem Amt fanden die Musterungen statt, die nach der Einberufung die Wehrtauglichkeit feststellen sollten.
Ehemaliges Kreiswehrersatzamt: Das Bundeswehr-Dienstleistungszentrum. (Links, Bild: Bundeswehr/Marcus Rott) / Veranstaltungsort: Das Jochen-Klepper-Haus (Rechts, Bild: Wikipedia)
„Es ist für mich das erste Mal in Oldenburg. Und auch meine erste Lesung in der Gegend, in der die Geschichte von Hermann spielt“, berichtet Hannah. Das mache die Lesung am 22. September doppelt besonders für sie. „Das Jochen-Klepper-Haus ist so nahe an dem Ort ist, wo nicht nur mein Onkel Hermann, sondern sehr viele junge Männer in den 70er Jahren teils schikanierende Gewissensprüfungen durchlaufen mussten.“ Es sei ein schönes Zeichen, an diesem Ort nun Hermann Brinkmanns Geschichte teilen zu können. „Vielleicht werden ja auch Betroffene von damals, die wie Hermann verweigern mussten und Teil des Prüfungsverfahrens waren, zu der Lesung finden und ihre Schicksale teilen. Das wäre eine große Bereicherung“, hofft die junge Autorin.
Aber auch - und gerade - für jüngere Jahrgänge sind Hannahs Buch und ihre Lesung von größter Relevanz. Denn entweder kehrt die Wehrpflicht eines Tages zurück und man wäre dann gut darauf vorbereitet. Oder es bleibt dauerhaft bei der Freiwilligkeit. Doch selbst dann wäre die Erinnerung an Hermann Brinkamnn wertvoll - weil man erst dadurch ermessen kann, in welch glücklicher Lage man sich selbst befiundet. Und etwas Glück weiß man doch immer zu schätzen.
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