Das Internationale Filmfest Oldenburg hat eine feste Heimat: Die Nische. Mit unentdeckten Indie-Perlen, schroffen Genre-Filme und mutigen Entscheidungen hat es sich in der bunten, schnellen und wilden Filmwelt fest etabliert. Im neuen Festival-Center in der Kaiserlichen Post haben wir Direktor Torsten Neumann getroffen - und dabei einiges erfahren, das nicht im Programmheft steht.
Es ist Freitag, der letzte vor Beginn des Filmfestes, kurz nach zwölf Uhr mittags. Wer Festivalchef Torsten Neumann ein wenig kennt, weiß aus Erfahrung: Es ist einer der letzten Momente, bevor es für ihn ab in den Tunnel geht. Denn alle, die den leidenschaftlichen Cineasten während des Festivals ansprechen, machen dieselbe Erfahrung: Torsten außerhalb und während des Festivals - das sind zwei verschiedene. Personen.
Umso besser, dass wir ihn rechtzeitig erwischt haben. Entspannt und bestens gelaunt hat er sich den erbarmungslosen Fragen unserer Kulturschnack-Interviewlotterie gestellt - und dabei einiges erzählt, das wir sonst nie erfahren hätten. Aber natürlich gibt's auch substanzielle News zur 31. Auflage des Internationalen Filmfestes Oldenburg. Here we go.
31. INTERNATIONALES FILMFEST OLDENBURG
11. BIS 15. SEPTEMBER 2024
CASABLANCA, CINEMAXX, CINE K, OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER, THEATER HOF/19 TICKETS
Der Blick aufs Besondere
Natürlich geht es beim Filmfest immer und in allererster Linie um aktuelle Independent-Filme. Und die gibt es auch in diesem Jahr wieder - und zwar reichlich. Doch daneben gibt es etwas anderes. Etwas, das sich nicht in der Zahl der Welt- oder Deutschland-Premieren widerspiegelt und das man auch sonst nicht messen kann. Nämlich: Haltung. Und die zeigt sich ebenfalls anhand des Programms. Und dort vor allem beim Tribute und bei der Retrospektive.
Ersteres widmet sich dem Filmemacherpaar Na Gyi und Paing Phyoe Thu aus Myanmar. Rangun ist nicht Hollywood, deshalb sind die beiden der breiten zentraleuropäischen Öffentlichkeit kein Begriff. Dennoch stehen sie für die Kraft und den Spirit des Independent-Kinos wie kaum jemand sonst. Seit dem Militärputsch im Jahr 2021 kämpft das populäre Paar nämlich für die Freiheit seines Heimatlandes und mobilisierte mit ihren Aktionen Hunderttausende für den Protest gegen die Junta. Nach einem Haftbefehl musste es zwar untertauchen, gründete aber gemeinsam mit anderen den „Artists Shelter“, in dem verfolgte Künstler:innen Schutz finden und weiter arbeiten können.
In Oldenburg laufen nun zwei Spiel- und drei Kurzfilme der beiden Filmemacher:innen: Starkes, intensives Kino, das keinen internationalen Vergleich zu scheuen braucht - und das durch die Hintergründe noch an Tiefe gewinnt. Es sind Entdeckungen wie diese, die das Filmfest so wertvoll machen.
TYPISCH FILMFEST MITTENDRIN IM FESTIVAL Wenn man ins Kino geht, ist der Ablauf eigentlich klar: Man schaut EINEN Film und geht danach vielleicht noch was Trinken. Beim Internationalen Filmfest Oldenburg ist dieses Prinzip ausgehebelt. An diesen fünf Tagen im September schaut man nicht nur einen Film pro Tag, sondern zwei oder drei - und das Rahmenprogramm steht ebenfalls im Zeichen des Festivals! Wie fühlt sich das an?
Die Antwort auf diese Frage haben wir im vorletzten Jahr gegeben. Für euch haben wir uns in einen Filmfest-Tag und eine Filmfest-Nacht gestürzt. Und ob Zufall oder nicht: Beides war ziemlich repräsentativ. Es gab spannende Beiträge aus Ländern, die wir mit Filmindustrie eigentlich nicht in Verbindung bringen. Es gab hochemotionale Filmkunstwerke, die uns beeindruckt und bereichert zurückließen. Es gab knallharte Streifen, die unbequem und in manchen Momenten nur schwer auszuhalten waren, die uns aber trotzdem/deswegen berühren und begeistern. Und es gab eine Secret Party in einer Location, in der die wenigsten Oldenburger:innen bisher mal waren. Mehr dazu? Lest ihr hier!Â
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Nach Perlen tauchen
Ähnliches gilt für die Retrospektive, die beim breiten Publikum immer wieder mal für Stirmrunzeln sorgt - aber meist nur kurz, Die Namen der Ausgezeichneten sind der Allgemeinheit nicht immer geläufig. Sobald man aber ihre Arbeiten kennen lernt, erschließt sich deren Preiswürdigkeit schnell. Festivalchef Torsten verdingt sich hier als Perlentaucher: Er sucht und findet, was andere nicht sofort als Schatz erkennen. Aber dank seiner Expertise darf man sich beruhigt darauf verlassen, dass seine Entdeckungen immer wertvoll sind.
Das ist auch in diesem Jahr so, allerdings mit leicht veränderten Vorzeichen. Den Namen Dominik Graf haben auch etliche Menschen schon gehört, deren normale Tage nicht allabendlich im Kinosaal enden. Kein Wunder: Graf galt vor allem in den Achtziger Jahren als hoffnungsvolles Regietalent, das sich eng an amerikanischen Genre-Filmen orientierte und deren speziellen Vibe nach Deutschland importierte. Seine Charaktere und Inszenierungen waren authentischer, roher und direkter als es damals vielfach üblich war. Damit setzte er Akzente und gab Impulse, die in Kinodeutschland auf viel Aufmerksamkeit stießen.
Das schönste Kompliment
Später überzeugte Graf mit zahlreichen Tatort- und Polizeiruf-Regiearbeiten, deren Markenzeichen es war, dass sie sich deutlich weniger „deutsch“ anfühlten als die meisten anderen Folgen. Graf blieb seiner Regiesprache treu - was ihr bei insgesamt sieben Filmen nachprüfen könnt, die im Rahmen des Filmfestes laufen. Hier gilt ebenso wie beim Tribute: Nehmt euch die Zeit und schaut euch diese Werke an. Es ist extrem spannend, sich mit Filmen aus anderen Epochen auseinanderzusetzen und Sehgewohnheiten zu vergleichen; vor allem dann, wenn sie von einem Fachmann wie Torsten ausgewählt sind.
Übrigens ist Dominik Graf auch für etas anderes verantwortlich. Als in der Interviewlotterie die Frage aufkommt, welches das schönste Kompliment ist, welches er je für das Filmfest bekommen hat, nennt Torsten nicht etwa die euphorischen Zitate aus The Hollywood Reporter. Nein, er nennt: Emails von Dominik Graf. „Über etliche Jahre hinweg hat er unser Programmheft per Post bekommen“, erzählt Torsten. „Schließlich schrieb er in einer Email: 'Das ist ein ganz starkes Festival, das ihr da macht.' Das war natürlich eine wahnsinnig tolle Nachricht.“ Fachleute hören Lob eben am liebsten von: Fachleuten.
FILMFEST OLDENBURG WELTSTAR DER NISCHE Viel hat sich verändert seit den Anfängen in den frühen Neunzigern. Das Festival ist professioneller geworden, ein wenig vernünftiger und vielleicht sogar etwas angepasster. Eines ist aber geblieben: Die Fähigkeit, vermeintliche Widersprüche aufzulösen. Zum Beispiel jenen zwischen anspruchsvollem und unterhaltsamem Kino. Oder jenen zwischen der glamourösen Filmwelt und dem norddeutschen Oldenburg. Mit diesen Worten haben wir vor zwei Jahr ein ausführliches Portrait über das Internationale Filmfest Oldenburg eingeleitet. Zwar wurde der Text im Vorfeld der 29. Auflage veröffentlicht, er lässt sich aber auf dieses Jahr übertragen - und auf alle weiteren. Er versucht nämlich, das Wesen des Filmfestes zu ergründen und erkunden. Für alle, die vom Filmfest zwar wissen, es aber noch nicht richtig kennen, ist der Beitrag der ideale Einstieg - für alle eingefleischten Fans eine gute Gelegenheit, sich die vergangenen drei Jahrzehnte noch einmal vor Augen zu führen. |
Die 99 Prozent
Mutig ist auch die Entscheidung, eines der schwierigsten Themen aufzugreifen, mit denen Oldenburg in der jüngeren Geschichte zu tun hatte. Nämlich: Die vielfachen Morde des Krankenpflegers Niels Högel. In „Jenseits der Schuld“ geht es aber um eine andere Perspektive, nämlich jener von Högels Familie. Wie geht sie mit den Taten des „Patientenmörders“ um? Die sensible Reportage gewann beim DOK.fest München den Publikumspreis. In Oldenburg ist man jedoch viel näher am schrecklichen Geschehen. Es wird spannend zu sehen sein, wie das Publikum hier auf den Film reagiert - auch für die beiden Regisseurinnen Katharina Köster und Katrin Nemec, die persönlich in Oldenburg zu Gast sein werden.
Die Filme stehen beim Filmfest ganz klar im Mittelpunkt. Torsten legt aber Wert darauf, dass es nicht nur um sie selbst geht, sondern auch um das Drumherum: „Wer sich auf die kleine Reise einlässt, die wir hier für fünf Tage anbieten, kann tolle Filme sehen, kann aber auch spannende Filmermacher:innen treffen“, nennt der Festivalchef eine wichtige Facette. Viele Regisseur:innen, Produzent:innen und Schauspieler:innen kommen nach Oldenburg, um ihre Filme vorzustellen - oftmals auch mit gewisser Aufregung, weil es sich um Premieren handelt. Alle haben gemeinsam, dass sie gern über ihre Arbeit reden und Freude an Input zu ihren Filmen haben. Man ist also herzlich eingeladen, nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu kommunizieren.
So last year: Das Video stammt aus dem letzten Jahr, ärgert Torsten aber mit einigen Klischees, die ihn schon seit dreißig Jahren begleiten und weiterhin eines Kommentars bedürfen. Entspannt provokant!
Etwas anderes ist Torsten ebenfalls wichtig: „Die Filme sind von Menschen gemacht und ausgewählt - und die kann man hier vor Ort treffen mit ihnen ins Gespräch kommen. Dadurch erhält man viele neue Einblicke und Perpsektiven.“ Das sei nichts, was ein Algorithmus uns vorsetze. „Und ich würde wetten: 99,95 Prozent der Menschen werden nach dem Kinobesuch sagen: 'Das war jetzt aber richtig cool.'“
Ryan Gosling? Oder Woody Harrelson?
Und wer ist der geheime Spitzengast in diesem Jahr? Ist es etwa einer dieser beiden? Nein, vermutlich nicht. Gut, wir kennen ihre Kalender nicht und können nicht beurteilen, ob sie das Internationale Filmfest Oldenburg dort längst eingetragen haben. „Five days to blow your mind? Count me in!“, könnten sie sich gedacht haben - passen würde es. Angekündigt haben sie sich bisher aber nicht.
Und warum erwähnen wir die beiden trotzdem? Weil es jene Schauspieler sind, die sich Torsten fürs Filmfest wünschen würde, wenn er dürfte. „Ryan Gosling ist ein großartiger Schauspieler und Musiker. Aber der ist natürlich nicht realistisch“, weiß der Festivalchef. „An Woody Harrelson sind wir aber immer wieder mal dran. Und der würde perfekt hierher passen!“ Dem können wir uns nur anschließen. Schließlich besticht der Schauspieler aus Texas mit einer bunten Rollenwahl, die ihn immer wieder zwischen Hero und Zero pendeln lässt. Und in dieser Grauzone zwischen Underdog und Allstar fühlt sich ja auch Oldenburg wohl.
In diesem Jahr wird es aber vermutlich nichts. Das hat allerdings sein Gutes, denn so können vor allem die Filme glänzen - und das werden sie auch. Deshalb unser Rat: Schnappt euch ein Programmheft (am besten im Festivalcenter), schaut euch die Trailer an, markiert eure Favoriten im Timetable, macht euch einen Kinofahrplan fürs verlängerte Wochenende, taucht ganz tief ein ins Festivalfeeling. Und irgendwann ist plötzlich Montag, der erste nach dem Filmfest, kurz nach zwölf Uhr mittags. Und ihr merkt:; Während des Festvals und außerhalb davon seid auch ihr zwei verschiedene Personen. Aber diese kleine Schizophrenie ist eine, die sich lohnt.
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