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ANDERS ALS DIE ANDEREN

Bereits zum neunten Mal hat im September das Zeichenfestival „ausgezeichnet“ stattgefunden. Wieder einmal hat die Oldenburger Kunstschule ein kontroverses Thema vorgegeben: Unter dem Titel „Zombies und Zeichnung“ geht es aber nicht etwa um Splatterfilme, sondern um das Anderssein - darum, wie wir damit umgehen und was es mit uns macht. Die Ergebnisse? Bieten nicht nur für die Beteiligten Momente der Selbsterkenntnis.


Ein Plakat mit dem Schriftzug „Zecken" an der Nardorster Straße in Oldenburg.
Zecken statt Zombies: Ist das nur einfach ein Wort? Oder kann man es nicht (mehr) ohne Kontext verwenden? (Bild: Izabella Mittwollen)

Sie kauern in Nischen, sie stehen am Rand, sie warten im Schatten. Manchmal jedoch bewegen sie sich im hellen Tageslicht, verhalten sich ganz normal, sind mitten unter uns. Wer „sie“ sind? Nein, keine Zombies aus blutrünstigen Splatterfilmen, sondern: die Anderen. Diejenigen, die von der Norm abweichen, die sich von der Masse abheben, die schlichtweg etwas anders sind als der Rest.


Mit dem 9. Oldenburger Zeichenfestival hat die Oldenburger Kunstschule einmal mehr ein wichtiges gesellschaftliches Thema aufgegriffen. Ging es bei der letzten Auflage im Jahr 2021 um die Wut und unseren Umgang mit ihr, steht nun die Frage im Mittelpunkt, wie wir das Anderssein definieren und was es bedeutet, anders zu sein. Etwa zweihundert Jugendliche haben im September ihre Antworten darauf gegeben, die nun für zwei Wochen im Core zu sehen sind. Dabei erfährt man viel über die Wahrnehmungen junger Menschen - und letztlich auch über sich selbst.


 

OLDENBURGER KUNSTSCHULE


9. OLDENBURGER ZEICHENFESTIVAL:

ZOMBIES UND ZEICHNUNG -

VOM ANDERSSEIN


28. SEPTEMBER - 13. OKTOBER


MONTAG-FREITAG 14-18 Uhr SAMSTAG 11-16 Uhr


CORE

26121 OLDENBURG

 

Zweihundert Mal Zeichnung


Mit „ausgezeichnet“ hat Oldenburg seit 2007 ein eigenes Zeichenfestival. Alle zwei Jahre findet es im September statt und verzeichnet (sic!) Teilnehmerzahlen im dreistelligen Bereich. Es geht aber nicht etwa darum, große Künstler:innen in die Stadt zu holen und sie hier weihevoll auszustellen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Selbstermächtigung und Eigenkreation. Junge Menschen erstellen unter professioneller Anleitung und in stimulierender Umgebung eigene Werke - und entdecken manchmal erst dabei ihr Talent für Zeichnung und Gestaltung.


Da wäre man gerne dabei gewesen: Intensive Arbeit im Studio 10 der Oldenburger Kunstschule in der Innenstadt. (Bilder: Izabella Mittwollen)

„Insgesamt sechs Workshops haben stattgefunden“, berichtet Projektleiter Georg Lisek von der Oldenburger Kunstschule. Die Leitung übernahmen sechs renommierte Künstler:innen aus der ganzen Bundesrepublik - aus Köln, Berlin, Essen, aus Hamburg und Oldenburg. „Eine Woche lang haben sie sehr intensiv mit rund 200 Jugendlichen von Oberschule, IGS und Gymnasium gearbeitet. Fünf Stunden am Tag - fünf Tage hintereinander.“


Zusätzlich hätten weitere Mikro-Workshops stattgefunden, in denen bestimmte Gedanken noch vertieft wurden und in denen weitere Werke entstanden. Das Besondere dabei: Sie haben zum Teil mit Personen stattgefunden, die wir intuitiv mit dem Attribut „anders" beschreiben würden, nämlich Gefängnisinsassen und Obdachlosen. Georg erinnert sich gern daran zurück: „Diese Arbeit war besonders berührend und bewegend, weil diese Menschen definitiv von Ausgrenzung betroffen sind, aber trotzdem natürlich Teil der Gesellschaft bleiben.“



Nur keine Angst


Das Thema „Zombies“ hingegen dürfe bei manchen Menschen ungute Assoziationen wecken. Mit dem Erfolg von The Walking Dead sind sie zwar in der Popkultur angekommen, dennoch gelten sie nicht gerade als umgängliche Zeitgenossen. Muss man etwa befürchten, dass die Arbeiten nichts für schwache Mägen sind und die Ausstellung erst „ab 18“ betreten werden darf? „Nein, ganz und gar nicht“, zerstreut Georg diese Zweifel. „Es gibt hier kein Blutvergießen, kein Gemetzel und Gemorde.“ Im Zentrum stehe vielmehr die Frage des Andersseins.


„Wer sind die Ausgestoßenen, die Abtrünnigen, die Außenseiter? Was sind das für Figuren und wie sehr sind wir das selbst? Wer entscheidet, wer dazugehört und wer nicht?“

Eine Litfaßsäule mit Motive der Oldenburger Kunstschule am Pferdemarkt in Oldenburg
Sie sind unter uns: Zombies wurden unter anderem auf Lfaß-Säulen am Pferdemarkt gesichtet. (Bild: Kulturschnack)

Zwar gebe es in einigen Werken durchaus eine Zombie-Ästhetik, die Jugendlichen hätten zum Teil aber auch sehr witzige und charmante Antworten gegeben. Andere wiederum hätten sich ernsthaften oder sogar schwierigen Themen gewidmet wie etwa der Unterdrückung von Frauen oder der modernen Sklaverei. Auch Corona habe in den Werken eine Rolle gespielt, erzählt Georg:


„Einerseits waren mit den Masken plötzlich alle gleich, andererseits haben sich alle gleichermaßen verloren und ausgegrenzt gefühlt.“


Kunst als Katalysator


Hier zeigen sich gleich zwei Qualitäten des Zeichenfestivals bzw. der Kunst als Medium der inhaltlichen Auseinandersetzung. Ein Thema, das zwar alle betrifft, das wir aber dennoch nicht greifen können, manifestiert sich vor unseren Augen. Was sonst ungreifbar durch unseren Verstand mäandert, erhält plötzlich eine Gestalt, zu der wir uns verhalten können. Das heißt: Die Kunst - bzw. die Werke der beteiligten Jugendlichen - macht uns Gedanken und Gefühle zugänglich. Sie sind eine Inspiration.


Georg Lisek von der Oldenburger Kunstschule im Rahmen des Zeichenfestivaks "ausgezeichnet"
In den Katakomben: Projektleiter Georg Lisek (rechts) im Gespräch. (Bild: Kulturschnack)

Gleichberechtigt daneben - oder sogar noch darüber - steht die künstlerische Expression. Es geht nämlich nicht nur um eine kognitive Auseinandersetzung mit einem Thema, sondern auch - bzw. vor allem - um die künstlerische Umsetzung, um Genres und Stile, um Mittel und Methoden und um den Mut, eigene Ideen umzusetzen. Georg beschreibt es so: „Das künstlerische Arbeiten ist das Mittel, um sich einer sozialen Fragestellung zu widmen und sich auf eine ganz interessante Weise damit zu befassen.“


All das begegnet uns in der Ausstellung im Core - passenderweise in kellerartigen Räumen mit unverputzten Wänden, die sonst kaum jemand sieht oder betritt. Ein Ort, an dem man Zombies vermuten könnte, wenn es sie denn gäbe. Ein vermeintlicher Nachteil wird dabei sogar zum Vorteil: In diesen Katakomben gibt es keine Fenster, Tageslicht haben sie noch nie gesehen. Was für Wohnungen ein Alptraum wäre, ist für Ausstellungen ein Idealfall, weil man die Beleuchtung somit selbst in der Hand hat. Das Team der Kunstschule lässt sich auf jeden Fall etwas einfallen, um die schaurige Thematik ins rechte Licht - oder in Dunkelheit? - zu rücken.


DAS THEMA DES FETIVALS

ZOMBIES UND ZEICHNUNG ​


„Es geht im 9. Zeichenfestival 2023 „Zeichnung und Zombies“ inhaltlich um Leben, das an unserem Leben nicht teilhaben kann oder will. Um die Ausgeschlossenen, die Willenlosen, die Außenseiter. Die vermeintlich Hässlichen und Aussätzigen. Die Komatösen und Dementen. Die Übergriffigen und Besserwissenden.


Gespenster auf einem Bild, das beim 9. Oldenburger Zeichenfestival der Oldenburger Kunstschule entstanden ist.
Schaurig? Dieses Werk entstand im Rahmen des Festivals. (Bild: Izabella Mittwollen)

Die Botoxgespritzen und die Schönheitsoperierten. Die Junkies und die Partypeople. Die Gefängnisinsassen und die High Society. Die Wahnsinnigen, die Verschwörer, die Aussteiger und Erleuchteten, nach deren Meinung wir die Zombies sind.


So sind die Fragen die im Rahmen des Zeichenfestivals gestellt werden: Wie mit Wesen leben, die nicht mit uns leben? Separieren sich die Menschen? Wer hat wie viele Kontakte? Und wenn nein, warum nicht? Welche Rolle spielt die zunehmende Digitalisierung? In welcher Welt leben die „Anderen“ eigentlich? Wie stellen wir uns Zwischenwelten vor? Wie mit „Zombies“ kommunizieren? Welche Sprache und welches Handeln ist korrekt? Wer ist hier überhaupt der „Zombie“? Ist es nicht eine Frage der Perspektive? Wie nehme ich die „Anderen“ wahr? Wie würde ich mich durch die Augen der „Anderen“ wahrnehmen?“


Quelle: Oldenburger Kunstschule


Provokationen wagen


Die Kunstschule bleibt beim Zeichenfestival an der Türschwelle der Ateliers aber nicht stehen - sie geht darüber hinaus in den öffentlichen Raum. Dort stellt sie aber nicht etwa gefällige Zeichnungen aus, sondern sucht die Provokation. „Wir haben weitere fünf Künstler eingeladen, zusätzliche Arbeiten für den Außenraum zu schaffen“, erklärt Georg. Dazu gehörten der bekannten Kölner Street Artist M05K, die gebürtige Ukrainerin Olga Grigorjewa (von der man noch bis zum 5. Januar 2024 eine Ausstellung in der VHS sehen kann), sowie die Schülerinnen Sophia Speer und Jasmin Speckmann.


„Unter ihnen war aber auch der Oldenburger Künstler Lars Unger, mit dem wir eine spezielle Plakataktion realisiert haben", ergänzt der Projektleiter. Und die hat es in sich. Schon lange vor der Ausstellungseröffnung sorgte sie für viel Reaktionen. Warum? Gute Frage. Denn bleibt man auf der Sachebene, dann hat Lars lediglich Begriffe auf eine weiße Fläche geschrieben. Worte wie „Frauen“, „Männer“, „Türken“, „Juden“, „Zecken“ oder „Bullen“ sind für sich vollkommen wertfrei und beschreiben lediglich Bevölkerungsgruppen bzw. Tiere. Dennoch blieb die Aktion nicht ohne Reaktion: „Die Leute gehen natürlich sehr darauf ein“, schildert Georg seine Eindrücke.


„Auf der Brücke sieht das so aus, dass die Plakate schon massiv beschmiert wurden und es Versuche gab, sie abzureißen. Manche Leute stehen auch vor einem Plakat und sagen: ‘Da steht Juden, das kann man doch nicht machen.‘“

Raus aus dem Atelier: Die Oldenburger Kunstschule hat beim 9. Zeichenfestival starke - und bisweilen provokante - Akzente im Stadtraum gesetzt. (Bilder: Izabella Mittwollen, Kulturschnack)


Nein? Die Frage wäre dann aber: Warum nicht? Und die Antwort dürfte viel über uns verraten. Wir Menschen sind so stark von Zusammenhängen beeinflusst, dass wir sie häufig nicht mehr wegdenken können, selbst wenn wir wollen. Und so ertappen wir uns dabei, dass wir bei manchen Begriffen auf den Plakaten der Kunstschule an etwas ganz anderes denken, als dort tatsächlich steht.


Das ist einerseits provokant, weil die negativen Reaktionen zu erahnen waren. Das ist andererseits aber wunderbar entlarvend, denn es zeigt, wie sehr wir in starren Strukturen denken. In ihrer Einfachheit und Klarheit ist die Aktion von Lars Unger letztlich genial, denn sie erzielte genau den Effekt, der beabsichtigt war - und den hoffentlich viele Menschen zum Nachdenken nutzen werden. Leider wird man die Werke im Stadtraum aber nicht mehr persönlich anschauen können: die entsprechenden Wände waren nur für eine bestimmte Zeit gebucht und werden nun sukzessive mit neuen Plakaten von anderen Auftraggebern überklebt.



Mehr Gefühl


Keine Frage: Mit dem Zeichenfestival schärft die Oldenburger Kunstschule ihr Profil - und das geht über die reine Vermittlung von Kunstfertigkeiten weit hinaus. Vielmehr begreift sich die Kunstschule als eine Bildungsinstitution, die ganzheitlich denkt und handelt. Sie verbindet die Kunst mit einem intensiven Blick auf unsere Gesellschaft und uns selbst als Individuen. Dabei legt sie insbesondere Themen frei, die im Alltag zwar präsent sind, die aber dennoch selten besprochen oder verhandelt werden.


Eine Litfaßsäule in Oldenburg, fotografiert durch die Speichen eines Fahrrades
Sie sind überall: Alle sind anders, deshalb sind wir umgeben von anderen - und auch selbst betroffen. (Bild: Izabella Mittwollen)

Die Mittel der Kunst erweisen sich bei „Zombie und Zeichnung“ einmal mehr als facettenreicher und effektvoller als viele fachliche Diskussionen. Sie entstehen aus Gefühlen der jungen Künstler:innen heraus - und appellieren beim Publikum an eben jene. Damit mag man inhaltlich nicht in die Tiefe dringen, man sensibilisiert aber für das Thema und emotionalisiert die Betroffenen. Und das zeigt: Kunst ist ein Mittel der Visualisierung, der Reflektion und der Expression. Alle Wirkungen kommen hier zum Ausdruck.


Es lohnt sich also, den kurzen Weg in die Katakomben des Core zu gehen. Denn auch wenn man sich selbst nicht als Außenseiter begreift, wird man etliche gedankliche Ansätze nachvollziehen können. Schließlich gilt: Wir alle sind anders als die anderen. Oder?

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