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DIE KUNST DER BEWEGUNG

„Ich gehe heute zum Ballett“ ist einer jener Sätze, die immer noch eine besondere Reaktionen beim Gegenüber erzeugt. Es gibt einige, die intuitiv begeistert sind. Und es gibt die anderen, deren Gesichtsausdruck am ehesten mit „Echt jetzt?" zu umschreiben ist. Tanz scheint für viele Menschen als Kunstform unzugänglicher zu sein als etwa Schauspiel und Konzert. Wer sich zu dieser Gruppe zählt, hat im kommenden März die perfekte Chance, sein Urteil zu revidieren. Denn dann finden die 15. Internationalen Tanztage Oldenburg statt.


Szene aus *** des Oldenburgischen Staatstheaters
Ästhetik, Athletik, Analogien: Tanz ist sehr viel mehr als nur ein bestimmte Schrittabfolge - wie hier bei „Rossini Cards“. (Bild: Serghei Gherciu)

Nein, Werbung muss man für die Internationalen Tanztage Oldenburg eigentlich nicht machen. Ganz im Gegenteil: Eigentlich müsste man sie verheimlichen. Die Kartennachfrage ist immer extrem groß, manche Vorstellungen sind bereits kurz nach Beginn der Vorverkaufs ausverkauft. Die Auslastung der einzelnen Veranstaltungen lag bei den letzten Tanztagen im Jahr 2019 im Schnitt bei über neunzig Prozent. Es gibt also genügend Menschen, die durchaus einschätzen können, was ihnen geboten wird. Und so viel sei verraten: Das ist auch im kommenden Jahr eine ganze Menge.


Aber ja, Werbung muss man für den Tanz als solchen sehr wohl machen. Spannend ist nämlich die Schere, die sich hier im Publikum auftut: Tanz löst entweder riesige Begeisterung aus - oder gähnendes Desinteresse. Wer hat denn nun Recht? Klare Antwort: Niemand. Denn es geht hier nicht um Recht. Es geht hier um einen Zugang zu etwas, das tatsächlich eine inspirierende, mitreißende Erfahrung sein kann, das man sich aber zunächst erschließen muss. Am besten: Durch einen unvoreingenommenen Selbstversuch. Und den solltet ihr nun wagen - falls ihr nicht längst Tanzfans seid.


 

15. INTERNATIONALE TANZTAGE OLDENBURG


17. BIS 26. MÄRZ 2023


OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER

DIVERSE SPIELSTÄTTEN



VORVERKAUF AB: 29. NOVEMBER 2022

 

Volles Festival-Feeling


Schon die Ballettcompagnie des Oldenburgischen Staatstheaters ist hochkarätig besetzt und bietet uns in der regulären Spielzeit etliche Höhepunkte. Ein aktuelles Beispiel dafür ist „Interaktion / Recycling I“, das die globale Klimakrise thematisiert und am 4. November Premiere feierte. Dem folgen noch viele weitere, unter anderem während der Tanztage. „Das liegt aber nicht daran, dass die Compagnie zufällig am Veranstaltungsort zuhause ist“, betont Festivalleiter Burkhard Nemitz. „Sie überzeugt unter Leitung von Antoine Jully durch ihre Qualitäten. Deshalb ist sie dabei.“ Auch als Lokalmatador muss man sich als seinen Platz also erst verdienen.


Junges, hochkarätiges Ensemble: Kibbuz Contemporary Dance Company 2 (Foto: Eyal Hirsch)

Warum die Oldenburger Truppe diese Gelegenheit nicht verpassen wollte, liegt auf der Hand: Die Tanztage sind ein bedeutendes Ereignis. Im biennalen Rhythmus - also: alle zwei Jahre - komprimieren sie die internationale Tanzszene auf zehn prallgefüllte Tage, denen man mit Fug und Recht Festivalcharakter attestieren kann. Ensembles aus den China, USA, Haiti, Belgien oder Israel kommen an die Hunte, und zeigen hier eine enorme Bandbreite zeitgenössischen, zeitgemäßen Tanzes. Da vermischen sich Ansätze, Stile, Themen, aber durchaus auch Ansichten und Überzeugungen zu einem funkelnden Kaleidoskop. Und das alles, selbstredend, auf höchstem Niveau.


Oldenburg fühlt sich während der Tanztage einmal mehr größer an als es ist. Man hat das Gefühl, bei etwas Einzigartigem dabei zu sein, das in mindestens zweifacher Weise mitreißend ist: Wegen der Performances auf der Bühne - aber auch wegen des internationalen Spirits. Beides sorgt dafür, dass die Stadt merklich vibriert. Und etwas anderes ist bei den Tanztagen ebenfalls zu spüren: Wie cool das alles ist. Tanz, so viel wird ganz schnell klar, ist keineswegs nur etwas für Eingeweihte und Enthusiasten. Die Grenzen etwa zur Hip Hop- und Breakdance-, Pop- und TikTok-Kultur sind fließend. Und sowieso handelt es sich bei den Protagonisten auf der Bühne und junge, talentierte Menschen, die echte Freude daran haben, das Publikum zu begeistern - und die dankbar sind für den meist tosenden Applaus.



TANZTAGE IN ZAHLEN

3 PARTYS 4 BÃœHNEN 8 NATIONEN 10 TAGE 11 WORKSHOPS 12 COMPAGNIEN 30 JAHRE 50+ VERANSTALTUNGEN

10.000 BESUCHER:INNEN



Fortgesetzter Erfolg


Die 15. Internationalen Tanztage setzen eine äußerst erfolgreiche Tradition fort. Corona unterbrach 2021 zwar den üblichen Rhythmus und sorgte für eine insgesamt vierjährige Pause. Das dürfte aber nicht für einen Abbruch des Interesses gesorgt haben, sondern eher für eine Zunahme.

Ausdrucksstarke Symbolik: Die Inhalte kommen nicht zu kurz, wie beim Malandain Ballet Biarritz (Bild: Oliver Houeix)

Hört man sich in der Szene um, sind viele Tanzfans förmlich ausgehungert nach dem mehrtägigen Ausnahmezustand, auf den sie so lange verzichten mussten. Verständlich - denn wer einmal dabei war, kann sich der Magie kaum entziehen. An dieser Stelle also eine Warnung: Wenn ihr bisher zu den Tanzskeptiker:innen gehört habt und euch nun zum Selbstversuch entschließen solltet - dann kann es sein, dass ihr direkt ins andere Lager überwechselt.


Das hat viel zu tun mit der exzellenten Auswahl an Compagnien, für die Altmeister Burkhard Nemitz und Antoine Jully gemeinsam verantwortlich zeichnen. Sie haben den Finger am Puls der internationalen Szene und begeistern immer wieder renommierte Compagnien für eine Reise nach Oldenburg - oder geben hoch veranlagten Newcomern eine Chance. Eine ausführliche Beschreibung der beteiligen Gruppen und deren Produktionen findet ihr im attraktiv gestalteten Programmheft, das es im Foyer des Staatstheaters übrigens auch in Papierform gibt.


Interessanterweise stammt beinahe das komplette Line-Up aus dem Jahr 2019, als die Tanztage 2021 ursprünglich vorbereitet wurden. Es ist erstaunlich und lobenswert, dass die Programme beinahe vollständig in das Jahr 2023 transferiert werden konnten und wir so in Genuss dessen kommen, was wir vor zwei Jahren zwangsläufig verpassen mussten. Für die Ensembles bedeutete diese Entscheidung Planungssicherheit in ungewissen Zeiten.


FÃœNF FASZINIERENDE FACETTEN


Nein, echte Ballettexperten findet ihr beim Kulturschnack nicht. Als neugierige Laien haben wir aber schon vor Jahren die Erfahrung gemacht, wie faszinierend die Kunstform Tanz sein kann. Deshalb an dieser Stelle fünf Dinge, auf die ihr achten könntet - und die dabei helfen, den Reiz des Tanzes für euch zu entdecken.



Die Choreographie

Das Zusammenspiel verschiedener Tänzer:innen, die jeweils für sich, aber vor allem auch im Kollektiv funktionieren, ist immer wieder faszinierend. Wie Bewegungen und Abläufe auseinander driften und wieder zusammenfinden, mal bewusst asynchron und mal in perfektem Einklang verlaufen, hat einen ganz eigenen Reiz.

Die Athletik

Tanz ist körperliche Höchstleistung. Was leicht und anmutig aussieht, ist manchmal das genaue Gegenteil: Nur mit enormem Kraftaufwand und Präzision zu bewerkstelligen. Auch die Art der Bewegungen und deren gekonnte Ausführungen haben unseren allergrößten Respekt. Was die Körper der Tänzer:innen leisten, ist wahre Körperkunst.

Die Ästhetik


Moderner Tanz kommt oft nicht als Ballett im klassischen Sinne daher. Die oft großen Themen und Geschichten werden nicht zuletzt auch durch die Gestaltung der Kostüme und des Bühnenbildes kommuniziert. Die ist mal opulent, mal reduziert, häufig stylisch und modern. Keine Frage: Das Setting trägt zum Ergebnis bei.

Der Inhalt

Die größte Herausforderungen ist vielleicht auch der größte Reiz. Natürlich ist eine Botschaft aus einem Tanz schwerer herauszulesen als aus einem Dialog. Man muss versuchen, die Bewegungen zu dechriffrieren. Das mag schwierig sein - es macht aber auch Spaß, die Abläufe zu interpretieren und für sich in einen Zusammenhang zu setzen.

Das Gesamtbild

Man könnte sagen: Der Gesamteindruck ist schlicht eine Summe der einzelnen Teile. Aber er ist mehr als das. Denn was beim Tanz alles zusammenspielt und sich ineinander fügt, das ist deutlich mehr als Skeptiker:innen zunächst vermuten würden. Es ist eine ein vielerlei Hinsicht sinnliche Erfahrung


Hoher Anspruch, hoher Zuspruch


Keine Frage: Wer das Team um Burkhard Nemitz, Christian Firmbach und Antoine Jully über die Tanztage sprechen hört, spürt Lust und Leidenschaft. Man registriert aber auch die feste Überzeugung der Protagonisten, einmal mehr ein starkes Programm auf die Beine gestellt zu haben, das allen Beteiligten vieles eröffnet: Den Ensembles die Auftritte auf wunderschönen Bühnen in einer - nun ja - wunderschönen Stadt. Dem Publikum einen Kulturgenuss auf allerhöchstem Niveau, der gleichzeitig aber cool und zeitgemäß ist und Festival-Spirit versprüht. Und dann natürlich noch die Summe all dessen: Die Begegnungen, die Gespräche, der Vibe, die Atmo. Alles gehört zusammen und bereichert sich gegenseitig.


Stimmungsvolles Bühnenbild: Das Beijing Dance Theater (Bild: Liu Ruirui)

Dabei spielt auch der thematische Inhalt eine große Rolle. „Wir haben uns bei der Planung erstmal umgeschaut in der Welt: Welche Themen gibt es? Welche Themen drängen?", erklärt Nemitz. Dabei kristallisierte sich schnell ein roter Faden heraus: Menschen in Bewegung. Das waren sie auf der globalen Ebene schon immer, ohne Migration sei die heutige Welt vollkommen unvorstellbar.


Eine Triebfeder für Migration sei - neben der Not - immer auch die Neugier auf anderes gewesen, erklärt Nemitz. „Es geht darum, andere Standpunkte einzunehmen und die Dinge mit anderen Augen zu sehen“, erklärt er. Dazu gehöre aber auch der Blick der anderen auf uns selbst - und nicht zuletzt die Eigenwahrnehmung. Von Menschen auf Wanderung und in Bewegung erzähle fast jede Produktion der Tanztage, berichtet Nemitz weiter. Und daraus ergibt sich eine Art Mission:


„Dieses Festival will helfen, mutiger zu werden. Es öffnet den Horizont für andere Sichtweisen, für Phantasie, für unsere Vergangenheit und unser Sein. Woher kommen wir? Warum sind wir das, was wir sind, und wie sind wir es geworden? Wie kann man das undurchdringliche Geheimnis der Existenz erhellen?“

Man spürt also ganz deutlich, dass Tanz nicht nur ästhetisch wirkt, sondern auch inhaltsstark und hochpolitisch ist. Und noch mehr: er hat den Anspruch, die beobachteten Zustände zu verbessern oder gar zum heilen - indem er uns sensibilisiert. Wir sind alle eingeladen zu überprüfen, ob - und wie - diese Wirkung erzielt wird.



Mehr als ein Rahmen


So viel Spektakel die Tanztage auf den Bühnen auch bieten: Das ist längst nicht alles! Denn neben den Auftritten der internationalen Compagnien gibt es ein umfangreiches Workshop-Programm. Hier kann man sich dem Thema Tanz über direkten Kontakt und Dialog, aber auch mit den eigenen Füßen annähern. All das bietet zusätzliches Wissen und wichtige Kontexte, die man sich nicht entgehen lasen sollte. Kleiner Tipp: Wer ein Ticket für eine Aufführung hat, bekommt das entsprechende Workshop-Ticket 50 Prozent günstiger.


​ AUSVERKAUFT! ...ODER?

EIN TIPP VOM EXPERTEN FÃœR DEN KARTENKAUF


Wie oben schon geschildert, sind etliche Veranstaltungen der Internationalen Tanztage frühzeitig ausverkauft. Damit sinken die Chancen, spontan in das Festival einzutauchen, natürlich immens. Doch es gibt sie, wie Burkhard Nemitz verrät: „Mit ist es noch nicht gelungen, die Algorithmen zu entschlüsseln“, gibt der Tanzexperte zu „Aber es ist immer so, dass kurz vor den Veranstaltungen noch Tickets in den Verkauf gehen.“ Den genauen Zeitpunkt könne man nicht vorhersagen, aber es lohne sich, auch kurzfristig immer mal wieder zu schauen. Und: „Auch an der Abendkasse kann man noch Glück haben!“


Darüber hinaus wäre ein Festival natürlich kein Festival, wenn es keine Musik und keine Partys gäbe. Sie zählen zwar als Rahmenprogramm, stehen den Hauptatrraktionen in Sachen Qualität und Attraktivität aber kaum nach - und sind zudem allesamt vollkommen gratis! Insbesondere der Auftritt von Axel Zwingenberger dürfte ein Highlight darstellen. Als Solist tritt er im Januar für mindestens 30 Euro pro Ticket vor 2.000 Menschen in der Hamburger Laeiszhalle auf. In Oldenburg bekommt man ihn in einem kongenialen Duo mit Lila Ammons zu sehen und muss nicht einmal Eintritt zahlen.


Und auch an die Kinder wurde gedacht. Seit 2014 haben sie einen eigenen, festen Platz im Programm. Den brauchen sie auch, wie Nemitz betont, denn Kinder verfügten über eine ganz eigene Körper- und Bewegungssprache. Daher gebe es auch Tanzproduktionen, die genau das berücksichtigen und Tanz sozusagen in Kindersprache übersetzen.


Alle diese Dinge, die viel mehr als nur ein Rahmen sind, tragen wesentlich zur Gesamterfahrung Tanztage bei. Und auch dazu, dass die These aus dem ersten Absatz stimmt: Werbung braucht diese Veranstaltung eigentlich nicht; zumindest nicht, wenn es darum geht, die Eingeweihten in die Spielstätten zu locken. Für alle anderen sind die Tanztage aber der ultimativen Einstieg. Denn anders als man erwarten dürfte, überfordert der Überfluss nicht etwa - sondern zieht uns mit wie ein Sog. Und das sollen natürlich alle wissen!



Körpersprache: Kommunikation funktioniert auch nonverbal ausgezeichnet (Bild: Serghei Gherciu)

Teamwork Tanztage


Wie glücklich Oldenburg sich schätzen darf, zeigt ein Blick in die Nachbarschaft. Die Tanzfestivals in Hannover und Bremen wurden von ihren Geldgebern zuletzt schwächer ausgestattet, das blieb nicht ohne Folgen für das Angebot. Oldenburg steht dagegen noch gut da. Der Etat von über 300.000 Euro verteilt sich auf verschiedene Schultern - und am stärksten sind jene der Sponsoren und des Publikums. Die eingangs erwähnte hohe Auslastung sorgt dafür, dass man am Staatstheater verlässlicher mit Einnahmen planen kann als anderswo.


Das freilich ist keine Garantie für die Zukunft, wie Burkard Nemitz mahnt: „Man darf nicht behaupten, dass die Tanzfestivals ausreichend ausgestattet sind. Das sind sie nicht!“ Auch Oldenburg stünden ungewissen Zeiten bevor. Stand heute macht das Teamwork aus Öffentlicher Hand (Land Niedersachsen und Stadt Oldenburg), privaten Unternehmen und dem treuen Publikum aber ein hochkarätiges Tanzfestival möglich.


Und genau das sind die Internationalen Tanztage: Ein Festival, und zwar mit all den mitreißenden Qualitäten, die so ein Ereignis hat. Internationalität, Dynamik, Inspiration. Und wie immer in solchen Fällen gilt: Man muss sich drauf einlassen. Tut man es nicht, wird man den Reiz nie erfassen. Tut man es aber doch, schwimmt man mit im Strom und surft irgendwann die Welle der Begeisterung.


Epische Dimensionen: Eine weitere Szene aus „Rossini Cards“ zeigt die Bandbreite (Bild: Serghei Gherciu)

Enthusiasmus statt Desinteresse

Man muss der selbstbewussten Überschrift des Programmheftes - „Ohne Tanz wäre dass Leben ein Irrtum“ - nicht zwangsläufig zustimmen. Aber man sollte herausfinden, ob nicht vielleicht was Wahres dran ist. „Ich gehe heute zum Ballett“ ist deswegen hoffentlich der Satz, den ihr im März 2023 häufig sagt, wenn es darum geht, eure Abende zu beschreiben. Und damit erntet ihr dann hoffentlich nicht verständnisloses Schulterzucken, sondern intuitive Begeisterung. Denn die wäre mehr als gerechtfertigt.

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