Die älteren unter uns haben bei dieser Headline wahrscheinlich für den Rest des Tages einen unsäglichen Ohrwurm* im Kopf. Sorry! Aber der Name passt: wir sind umgeben von Plastik - und das wird immer mehr zum Problem. In diesen Tagen wird der Kunststoff gleich zweimal zum Kunst-Stoff. Wie genau und warum das so wichtig ist, lest ihr hier.

Das Kunstkollektiv The Hidden Art Project hat sich durch einige spektakuläre Aktionen in Oldenburg innerhalb kürzester Zeit einen Namen gemacht. Die neueste Ausstellung kommt etwas kleiner und dezenter daher. Doch dafür hat sie zwei anderes Clous: Sie ist interaktiv - und informativ.
Zugegeben: das Adjektiv „informativ“ wirkt unspektakulär. Es pendelt zwischen „nett“ und und „hilfreich“, ist also positiv besetzt, aber trotzdem etwas fad. Dabei ist informative Kunst ein ganz großes Ding. Denn es geht dabei nicht etwa um einen halbgaren Kompromiss aus zwei verschiedenen Schwerpunkten, sondern um deren Vereinbarkeit. Die Kunst hat zwar ein konkretes Anliegen, sie macht dabei aber keine Abstriche in ihre Qualität. Vielmehr ergibt sich durch das Zusammenwirken von Werk und Botschaft eine weitere kreative Ebene. Und wenn man dann auch noch mitmachen darf, also selbst Teil der Kunstwerks wird - umso besser!
„TRACED BY PLASTIC"
26. MÄRZ 2022 - 24. APRIL 2022
AB 19 UHR
LAMBERTIHOF
MARKT 26122 OLDENBURG
Gut versteckt: Hidden Art
Genau das passiert bei der aktuellen Ausstellung "Traced by Plastic" des Hidden Art Projects. Sie liegt - das macht der Name des Kollektivs absolut Sinn - etwas verborgen im hinteren Teil des Lambertihofs. Vom Eingang am Rathaus aus gesehen ganz am Ende links, jenseits der Kaffee-Tische der Pagode, befindet sich das Atelier der Hidden Art Truppe. Dort haben wir uns mit Gründer Sven Müller getroffen und einen Blick auf den Stand der Dinge geworfen.

Stand der Dinge? Genau, denn das Kunstwerk verändert sich ständig. Jede:r Besucher:in ist eingeladen, es selbst zu erweitern und seine persönlichen Gedanken zum Thema "Plastik" zu verewigen. Dabei ist das Setting der Ausstellung aufs Nötigste reduziert: Es besteht im Grund aus schwarzen Flächen mit weißen und pinken Akzenten, die beschrieben worden sind. Auffällig dabei: Größen, Farben und Stile variieren deutlich, ergeben zusammen aber einen ästhetisch angenehmen Gesamteindruck.
Partizipation als Prinzip
„Wir haben das Projekt - von der Vernissage an - komplett partizipativ geplant“, erzählt Sven. „Von uns kam die ästhetische Grundlage, also die visuelle Gestaltung der Wandfläche. Sie sollte zum Mitmachen anregen. Und das hat sehr gut funktioniert.“ Tatsächlich: Neben den vorgegebenen Elementen sind viele Einträge zu finden, die individuelle Fragen, Meinungen und Gedanken zum Thema Plastik widergeben.
Besucher:innen können das Werk betrachten, sie können es lesen, sie können aber jederzeit auch selbst den Stift in die Hand nehmen und künstlerisch tätig werden. „Klar gibt es da eine kleine Hemmschwelle“, weiß Sven. „Aber die löst sich ganz schnell auf. Und wer erstmal anfängt zu kommentieren, ist meistens gar nicht mehr zu bremsen.“ Das können wir bestätigen, denn Kevin hat den Selbstversuch gewagt und ist tief eingetaucht in das Experiment:
Konfrontation mit sich selbst
Durch die Befragung der Betrachter*innen dahingehend, wie Plastik im Alltag ihr Leben beeinflusst und sie auffordert eine gewisse Reflexionsebene sich selbst und ihrem Verhalten gegenüber aufzubauen, findet hier, aber auch gesellschaftlich die Individualisierung eines kollektiven/gemeinschaftlichen Problems statt – oder? Auf der einen Seite schaffen es diese Reflexionsebene beziehungsweise die Fragen, mit denen man sich im Verlauf der Ausstellung konfrontiert sieht, gnadenlos vor Augen zu halten, wie sehr Plastik in unserem Leben eine Rolle spielt und in welchen Bereichen viele in ihrem Leben sehr wahrscheinlich deutlich nachbessern müssten, weil die rückkoppelnden Folgen für jeden einzeln aber auch für die Gemeinschaft mit Hinblick auf Klimawandel katastrophal sind.
Der Elefant im Raum
Gerade der Plastikkubus als Exponat im Nebenraum, den man wohl wahrscheinlich schon viele Male als einzelner, erwachsener Mensch im Regelfall verursacht hat, hält einem vor Augen: Diese Mengen an Müll verschwinden nicht einfach & lösen sich auf – sie stehen wie der Elephant in the room (quasi im wahrsten Sinne in diesem Fall) und wir sollten unbedingt drüber sprechen. Hier bekommen wir als Menschen ganz klar zu spüren, dass das Leben in Zyklen funktioniert und wir den Müll, die Schadstoffe, die uns vorher nicht interessieren, am Ende doch wieder über die Lebewesen, die wir Essen (bspw. Fisch) zu uns nehmen, da unsere Gewässer inzwischen schlichtweg mit Mikroplastik verseucht sind.
Veränderung im Kleinen und Großen
Auf der anderen Seite, kann diese Individualisierung des Problems, glaube ich, auch eine gewisse Hilf- und Ratlosigkeit auf diese vielen Fragestellungen erzeugen. Seinen Plastikverbrauch wirklich drastisch zu reduzieren, das erfordert in unserer aktuellen Gesellschaft (in vielen, nicht allen Bereichen) ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, zusätzlicher Mühe und auch zusätzlichem Geld. Man muss oftmals Produkte untersuchen, Inhaltsstoffe recherchieren, den passenden Supermarkt/Shop suchen, Alternativen finden und für diese dann auch das nötige Kleingeld übrig haben.
Natürlich beginnt Veränderung immer bei einem selbst und auch die kleinen Veränderungen tragen zum Wandel bei. Doch trotzdem schwirrt mir bei der Auseinandersetzung mit der Thematik immer wieder auch der Gedanke beziehungsweise der Satz im Kopf herum: „Warum müssen wir dieses Problem „allein“ mit unseren (oftmals) Konsumentscheidungen lösen?“ Gemeint dahingehend, dass solche tatsächlich weltumfassenden Wandel eventuell auch ein übergeordnetes Handeln erfordern, weil die Herausforderung zu groß für den einzelnen ist. Im Kleinen: warum müssen wir uns überhaupt entscheiden, ob wir Gemüse in Plastik oder „unverpackt“ kaufen – warum wird uns die schlechte Option überhaupt angeboten?
Inspirierende Interaktion
Toll ist, dass dieser öffentliche Diskurs, den wir immer weiterführen werden/müssen, wie eine empirische Sozialforschung, am Ende als ein großes Kunstwerk seinen Ausdruck in diesem Projekt und ggfs. auch in den geplanten folgenden Weiterführungen bzgl neuer Themen findet, weil Besucher*innen gegenseitig Bezug aufeinander nehmen können/konnten. Diese schriftliche Konservierung an den Wänden zeigt auch, wie völlig unterschiedlich Menschen auf eine so ernsthafte Thematik und der Konfrontation mit dieser reagieren, wie sie diese verarbeiten. Denn sie findet unmittelbar in den ausformulierten Kommentaren Ausdruck: manche schreiben einfach nur lustige Kommentare, malen eine Schmiererei, andere geben innerste Ansichten preis oder suchen politische Debatte und möchten sich mit ihrer klaren Position verewigen.
Ein Brocken Inspiration
Inspiration liefert übrigens ein 360 Kilogramm schwerer Würfel, der aus Plastikflaschen und -Dosen zusammengepresst wurde. Quasi: eine Plastik aus Plastik.

Wie viele Objekte das sind? Schwer zu sagen. Aber die komprimierte Darstellung des Plastikwahnsinns funktioniert. Die Gedanken rasen geradezu, wenn man sie diesen Klotz aus gedankenlos benutzten und weggeworfenen Alltags-Gegenständen betrachtet. Dass diese brachiale Visualisierung unseres Konsumverhaltens sogar eine ästhetischen Wert hat, treibt die Widersprüchlichkeit auf die Spitze. Ist das irgendwie schön? Und darf es das sein? Die Antworten müssen wir selber finden.
Fortsetzung folgt
Das Thema Plastik soll erst der Anfang gewesen sein. „Wir wollen ‘Traced by‘ zu einer Reihe ausbauen“, blickt Sven voraus. „Wir finden das Prinzip total spannend: Wir geben ein Thema und eine Grundlage vor, bieten dazu noch Inspiration - und dann sind die Gäste dran.“ Man spürt geradezu die Vorfreude des hauptberuflichen Glasers auf den nächsten Schwerpunkt. „Es ist doch cool, dass die Gedanken der Leute ungefiltert einfließen können.“
Und ist das Endergebnis dann tatsächlich Kunst? „Ja, klar!“, antwortet der Hidden Art-Gründer voller Überzeugung. Wenngleich ihm die Kategorisierung gar nicht wichtig ist. „Das Spannende ist doch, dass wir ganz unterschiedliche Menschen dazu bringen, miteinander zu interagieren.“ Das Ergebnis habe einen künstlerischen Wert, bilde aber gleichzeitig die Position der Bevölkerung zu einem Thema ab. „Das könnte man sogar für die Stadtentwicklung nutzen“, wagt Sven einen Blick auf die weiteren Möglichkeiten.
Eins ist klar, als wir den Lambertihof wieder verlassen: Das Format hat Potenzial. Nicht alles ist bis zum Ende auskonzipiert. Aber das gehört eben zum System, schließlich handelt es sich um Work in Progress. Lust mitzumachen? Dann nichts wie hin. Am 24. April muss Hidden Art das Atelier im Lambertihof schließen. Weiter geht es dann in einem anderen Leerstand in der Oldenburger City. In welchem? Darüber berichten wir bald an dieser Stelle.
* Du gehörst nicht zu den älteren Semestern? Du hast keine Ahnung, welchen Ohrwurm wir meinen und wofür wir uns entschuldigen? Und du willst alles darüber wissen? Okay, here we go. Aber auf eigene Verantwortung!