Ein typischer adventlicher Sonntagmorgen in Oldenburg: Aufstehen, Frühstücken, in der Zeitung blättern - und dann eine Geschichte über Kannibalismus hören! Klingt zunächst absurd, aber in Zeiten des True Crime-Booms kein undenkbares Szenario. Möglich wird es durch die Lesung von Senthuran Varatharajah, der im Wilhelm13 seinen zweiten Roman „Rot (Hunger)“ vorstellt. Der zeigt vor allem eines: Wie überraschend und mitreißend junge Literatur sein kann - wenn auch nichts fürs schwache Nerven!
Ach, wie herrlich! Stellt euch mal vor: Es ist Dezember, die gesamte Gesellschaft verfällt in den üblichen vorweihnachtlichen Konsumrausch. Die Straßen sind dicht, die Gassen der Weihnachtsmärkte ebenso und unsere Kalender erst Recht. Immer wieder mal stellt man fest: Besinnlichkeit? Ist nur ein Klischee.
Was daran herrlich ist? Dass diese Feststellung nicht stimmt. Besinnlichkeit gibt es nämlich doch - in Form von Ruhepolen, die sich nicht dem allgemeinen Jahresendwahnsinn anpassen wollen. Und dazu gehört eindeutig: Das Wilhelm13 - insbesondere dann, wenn das Literaturhaus mit der Literatour Nord zu Gast ist. Denn dann ist klar: Hier kann man sich abkapseln, die Welt draußen lassen und sich ganz dem Erlebnis widmen. Und dafür ist kaum ein Moment besser geeignet als - genau! - ein adventlicher Sonntagmorgen.
LITERATOUR NORD
SENTHURAN VARATHARAJAH: „ROT (HUNGER)“
LESUNG
SONNTAG, 4. DEZEMBER, 11 UHR (TICKETS)
WILHELM13
26121 OLDENBURG
Literarische Grenzerfahrung
Wobei sich diese Situation am 4. Dezember als klaustrophobisch darstellen könnte, denn womöglich möchte man dem Moment an der einen oder anderen Stelle entfliehen. Senthuran Varatharajah erzählt nämlich nicht irgendeine Geschichte, sondern jene des Armin M., besser bekannt als der Kannibale von Rotenburg.
Wer tiefer ihn dessen überaus bizarre Geschichte eintauchen will, lese bitte den epischen Eintrag auf Wikipedia. An dieser Stelle nur so viel: Der Protagonist tötet und verspeist einen anderen Mann - auf dessen expliziten Wunsch.
Allein diese Grundkonstellation bietet bereits extrem viel Stoff. Zu tun hat das nicht nur mit der Handlung, sondern auch mit den bodenlosen Abgründen der menschlichen Psyche - und mit den Grenzen unseres Verständnisses. Die Begegnung zweier Individuen mit exakt passenden pathologischen Neigungen ist tatsächlich mindblowing. Unser Verstand ist außer Stande, das nachzuempfinden.
Umso spannender ist es, anhand dieses Settings gleich zwei Geschichten zu erzählen. Varatharajah macht in seinem zweiten Roman das vielleicht einzig sinnvolle: er lässt uns nicht mit den brutalen Einzelheiten allein (auch wenn er uns nicht verschont), er verknüpft sie mit einer weiteren, größeren Geschichte.
Überraschenderweise geht es dabei nicht etwa um Artverwandtes wie Anatomie oder Sexualität, sondern um... Liebe! Wie der junge Autor diese Dinge verknüpft, die sich zunächst auszuschließen scheinen, welche Rolle dabei Nähe und Ferne spielen und wie die Mechanik des Tötens und Schreibens zusammenpassen - das erzählt er euch am besten selbst. Wenn ihr euch traut.
LITERATOUR NORD LESEREISE 22/23 30. Oktober 2022, 11: 30 Uhr HELENE BUKOWSKI - DIE KRIEGERIN 20. November 2022, 11:00 Uhr ANDREAS SCHÄFER - DIE SCHUHE MEINES VATERS 4. Dezember 2022, 11:00 Uhr SENTHURAN VARATHARAJAH - ROT (HUNGER) 15. Januar 2023, 11: 00 Uhr STEFFEN MENSCHING - HAUSERS AUSFLUG 29. Januar 2023, 11:00 Uhr FATMA AYDEMIR - DSCHINNS
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Provozierend brillant
Man weiß ja eigentlich gar nicht, wo man anfangen soll, wenn man die interessanten Aspekte an dieser Lesung aufzählen soll. Ein studierter Philosoph (!) aus Sri Lanka (!) widmet sich einer deutschen Provinzgeschichte (!), die an Grausamkeit kaum zu überbieten ist (!) und strickt in diese Konstellation auch noch das ewige Thema Liebe (!) rein? Unmöglich, durch diese Konstellation nicht irgendeiner Weise getriggert zu werden - im Positiven wie im Negativen.
Die Feuilletons feierten Varatharajah jedenfalls schon nach dessen Debüt „Vor der Zunahme der Zeichen“. So attestierte ihm dir Kritikerin der SZ „enorme gedankliche Konsequenz“ und „sprachliche Radikalität“, Literaturwissenschaftlerin Ulla Hahn sprach gar von einem „Geschenk an die deutsche Sprache“. Er wurde mit Stipendien, Nominierungen und Auszeichnungen geradezu überhäuft. Und das Urteil der Fachwelt ist auch bei seinem Zweitwerk überaus positiv. Erstaunlicherweise stellen sich die zum Teil durchaus ekelerregenden Details keine unüberwindliche Schwelle dar. Im Gegenteil scheinen sie ein Setting zum bilden, das die literarischen Qualitäten des Buchs ums klarer werden lassen. All die widerstreitenden Gefühle fasst die FAZ in gerade mal zwei Worten zusammen: „Provozierend brillant“.
Angesichts seiner Profession wundert es nicht, dass diese Ausgangslage Varatharajah - nun ja - philosophisch werden lässt. Aber eine andere Wahl hat man eigentlich auch gar nicht. man kann diese Geschichte kaum schlicht rational betrachten. Anderseits eigene sie sich hervorragend, manche Themen oder Gedanken zu sortieren, weil sie einfach alles auf eine nie als vorstellbar Weise auf die Spitze treibt. Und genau das ist dem Autor eindrucksvoll gelungen.
WER IST SENTHURAN VARATHARAJAH? Geboren wurde Varatharajah 1984 in Jaffna in Sri Lanka. Seine Familie floh kurz später vor dem Bürgerkrieg in seinem Heimatland und ließ sich in Oberfranken nieder. Heute sagte er, die dadurch fehlende nationale Identität sei eine interessante Leerstelle in seinem Leben. Varatharajah studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. Im Jahr 2014 nahm Varatharajah - ohne jemals zuvor etwas veröffentlicht zu haben - an den 38. Tagen der deutschsprachigen Literatur teil und gewann dort den 3sat-Preis. Sein Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ erschien zwei Jahre später im S. Fischer Verlag. Das Erzähltalent scheint übrigens in der Familie zu liegen. Senthurans jüngerer Bruder Sinthujan erhielt für sein Buch „an alle orte, die hinter uns liegen“, in dem er den Eurozentrismus kritisiert, ebenfalls hervorragende Kritiken.
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Mehr als True Crime
Senthuran Varatharajah hatte sicherlich nie vor, auf den True Crime Train aufzuspringen. Und doch profitiert er davon. Vor einigen Jahren nämlich hätten wir seine Geschichte für kaum vermarkter gehalten. Zu groß wäre die Abscheu gewesen. Aber heute? Nach unzähligen Zombie- und Massenmord-Geschichten ist das Publikum zunehmend hartgesotten, ein abgetrennter Körperteil führt längst nicht mehr zwangsläufig zu einer Abwehrreaktion.
Dennoch bleibt „Rot (Hunger)“ eine Herausforderung. Der Autor spart nicht an Details und es braucht hier und da tatsächlich einen starken Magen, um alle Details des Falls zu verarbeiten.
Und trotzdem lohnt es sich! Denn literarisch wird in diesem Buch vieles geboten, das Sprachgefühl von Senthuran Varatharajah ist unvergleichlich. Und dann ist das ja noch die Metaphorik! Varatharajah gelingt die Verquickung von deskriptiven Schilderungen und philosophischen Gedanken auf eine geniale Weise.
All das live im Wilhelm13 zu erleben, dürfte tatsächlich kein vollkommen typischer Sonntagmorgen in Oldenburg sein. Sogar ganz im Gegenteil: Er wird außergewöhnlich - und genau darin liegt seine Stärke. Verpasst es nicht, wenn ein junges Literaturtalent unsere Gedanken und Gefühle auf die Probe stellt. Nur: Gegessen haben solltet ihr vielleicht vorher. Guten Hunger!
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