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MOIN, WELT!

Die KIBUM? Kennt in Oldenburg jede:r und auch jenseits der Stadtgrenzen ist die Kinderbuchmesse keine Unbekannte. Und doch gibt es Facetten von ihr, die bisher noch nicht ausreichend gewürdigt wurden. Am offensichtlichsten vielleicht: Die Partnerländer. Dieser inhaltliche Kniff ist simpel, aber genial - denn so treffen die jungen Leser:innen auf Land, Leute, Literatur. Und nicht nur sie.


Das Kulturzentrum PFL in Oldenburg während der Kinder- und Jugendbuchmesse KIBUM
Im Zeichen der Schweiz: Die Flagge ist nur montiert, sonst aber dreht sich im PFL gerade aber tatsächlich vieles um unser südliches Nachbarland. (Bild: Kulturschnack)

Sagen wir einfach, wie es ist: Als Erwachsener beschäftigt man sich kaum mit Literatur für Kinder und Jugendliche - bzw. nur dann, wenn ein Exemplar dieser Gattung zum eigenen Haushalt zählt. Und selbst dann ist man dabei eher fremd- als eigenmotiviert. Das ist einigermaßen verständlich, schließlich verändern sich die Lesegewohnheiten und -bedürfnisse im Laufe des Lebens recht deutlich. Und doch lohnt sich der Blick auf Formate, die eigentlich für jüngere Leser:innen gedacht sind.


Der ideale Ort dafür ist die KIBUM. Auch dort finden Erwachsene vielleicht nicht plötzlich Zugänge zu Bilderbüchern für Dreijährige. Aber da ist ja noch mehr als das bedruckte Papier. Erstens ist es ein großer Spaß, Kinder dabei zu beobachten, wie sie sich in der kleinen Bücherwelt austoben. Und zweitens - jetzt wird's relevant - gibt es ein Rahmenprogramm, das auch für Menschen etwas zu bieten hat, die sich an die Schulzeit kaum noch erinnern können. Man muss nur lernen, mit Kinderaugen zu sehen.


 

KIBUM

OLDENBURGER KINDER- UND JUGENDBUCHMESSE


- AUSSTELLUNGEN -


11. BIS 26. NOVEMBER


MO- FR: 19-18 UHR

SA-SO: 10-18 Uhr


BBK GALERIE/ARTOTHEK

26121 OLDENBURG

 

Weltreise vor Ort


Eine Besonderheit der KIBUM ist der alljährliche Schwerpunkt. Immer wieder werden dabei inhaltliche Akzente gesetzt, seit 2006 spielen aber auch geographische Bezüge eine wichtige Rolle. Damals ging es um den Orient, also die nordafrikanischen und vorderasiatischen Länder zwischen Marokko und Afghanistan. Eine gewisse Aufregung gab es damals zwar um die Schirmherrin Suzanne Mubarak, die sich zwar der Entwicklung der Grundschulen und der Alphabetisierung der Jugend in Ägypten widmete, aber Ehefrau des autokratischen Staatspräsidenten war. Dennoch war dieses Experiment erfolgreich, so dass bereits im Folgejahr mit Frankreich zum ersten Mal ein einzelnes Land im Mittelpunkt stand.


Begegnungen: Die ausgewählten Partnerländer der letzten Jahre standen häufig im Kontext zu gleichnamigen Veranstaltungsreihe des Kulturbüros. Die jeweiligen Plakate beeindrucken auch visuell. (Bilder: KIBUM)


Seither gab es immer wieder Länderschwerpunkte - und sie haben sich stets als große Bereicherung erwiesen - vor allem natürlich für die vielen Kinder und Jugendlichen, die vor Ort in Oldenburg Entdeckungsreisen in die Ferne unternehmen konnten. Zwar ersetzt nichts die persönliche Begegnung mit einem Land, verglichen mit mancher Pauschalreise ins All-Inclusive-Resort ist die literarische Expedition aber häufig die bessere Alternative - denn sie bietet authentische Eindrücke.


Dieses Prinzip gilt aber nicht nur für die Bücher selbst, sondern auch für das Rahmenprogramm, insbesondere die Ausstellungen. Sie sind nicht nur für Kinder spannende Entdeckungsräume, sondern wirken auch auf Erwachsene. Zwar haben viele Volljährige gewisse Hemmungen, in Veranstaltungen zu gehen, die „frei ab 6" sind. Doch hat diese Angabe auch noch niemanden davon abgehalten, sich „Star Wars“ anzugucken.


 

Wir haben uns über diese literarischen Grenzüberschreitungen mit der Schweizer Autorin Lika Nüssli unterhalten. Das vielfach preisgekrönte Multitalent ist an der diesjährigen KIBUM gleich mehrfach beteiligt: Einige ihrer Werke sind in der Ausstellung „Schweizer Augen-Blicke“ zu sehen, gemeinsam mit Schüler:innen der Grundschule Bürgeresch entwickelte sie das Panoramawerk „Bildschöne Schweiz“, am ersten KIBUM-Wochenende gab sie einige Workshops und zudem hat sie auch das diesjährige Plakat gestaltet. Wie nimmt sie - gewissermaßen von der Gegenseite - das Konzept der KIBUM war? Das lest ihr hier!

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Die Schweizer Autorin Lika Nüssli, zu Gast bei der Kinderbuchmesse KIBUM in Oldenburg.
Scharfer Blick: Lika Nüssli hat einen genauen Blick auf ihre Heimat. (Bild: Ladina Bischof)

Lika Nüssli, 1973 in Flawil geboren, wuchs in Gossau im ostschweizerischen Kanton St. Gallen auf. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Textildesignerin und studierte anschließend Illustration an der Hochschule für Design und Kunst in Luzern. Seit 2003 ist sie als freischaffende Künstlerin in den Bereichen Zeichnung und Malerei, Performance und Installation tätig.


Für ihr zeichnerisches Werk wurde Lika Nüssli mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Comicstipendium der Deutschschweizer Städte und dem Comic-Werkbeitrag von Pro Helvetia. Sie ist Mitherausgeberin des Comic-Magazins »Strapazin«, gibt Zeichenkurse im Kunstmuseum St. Gallen und unterrichtet Illustration im Propädeutikum der dortigen Schule für Gestaltung. 2022 widmete das Cartoonmuseum Basel ihr eine Retrospektive. Lika Nüssli lebt in St. Gallen.


Lika, schön dass du hier bist. Es soll ja immer wieder Verwechslungen mit dem Oldenburg in Holstein geben...


Das war kein Problem, ich war im September schon mal in Oldenburg für einen Workshop. Es war eine tolle Erfahrung, weil ich dabei mit einer großartigen Lehrerin und ihrer Klasse zusammenarbeiten konnte.


Du stellst auf der KIBUM ja nicht nur deine Werke aus, sondern gibst auch Workshops. Was bedeutet es dir, mit Kindern zu arbeiten?


Kunst und Gestalten bilden auf verschiedenen Ebenen eine ungeheure Ressource, die uns Menschen zur Verfügung steht. Jedes Kind sollte auf möglichst viele Weisen daran geführt werden.


Kuh vor Alpenpanorama in der Schweiz
Tolle Erfahrung: Lika hatte viel Spaß mit den jungen Künstler:innen der Grundschule Bürgeresch. (Bild: KIBUM)

Du selbst lässt dich künstlerisch nicht festlegen, beschäftigst dich u.a. mit Malerei, Skulptur, Performance. Gibt es einen roten Faden?


Ja, den gibt es: All meine Projekte beruhen auf dem Boden der Narration. Ich versuche, auf verschiedene visuelle Arten Geschichten zu erzählen, weil mich alle Medien interessieren. Es spielt auch immer eine Rolle, zu welchem Inhalt ich welche Mittel wähle.


In Oldenburg bist du nicht zuletzt auch deshalb zu Gast, weil die Kinderbuchmesse den Ansatz eines Partnerlandes verfolgt. Hast du Sympathie dafür?


Ja, ich finde es einen berechtigten Nenner, um ein Schwerpunkt festzulegen. Ausserdem zeigt sich dabei immer wieder, wie breit gefächert ein Kulturkreis ist und welch große Zahl an Entdeckungen er bereithält.


Deine Beteiligung macht dich zu einer Art Botschafterin deines Landes. Wie fühlst du dich mit dieser Rolle?


Die Verantwortung war mir von Anfang an bewusst. Ich versuche, möglichst keine Stereotypen zu zementieren und lieber ein visionäres Bild der Schweiz zu vermitteln. Genau das habe ich auch in meinem Workshop getan, den ich im Vorfeld in Oldenburg gegeben habe. Mein aktuelles Buch „Starkes Ding“, das ich mit dabei habe, zeigt außerdem ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte auf, in der es um das Unrecht der sogenannten „Verdingkinder“ geht (siehe Kasten).


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JENSEITS DER KLISCHEES

DIE DUNKLE SEITE DER SCHWEIZ


Verdingkinder waren meistens Waisen und Scheidungskinder. Sie wurden zwischen 1800 und 1960 von Schweizer Eltern weggegeben oder von Behörden den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich feilgeboten.


Titelbild des Buchs "Starkes Ding" von Lika Nüssli, das sie auf der KIBUM 2023 in Oldenburg vorgestellt hat.
Starkes Ding: Likas Graphic Novel über die Verdingkinder erhielt den Schweizer Literaturpreis 2023 und den Prix Delémont als Bester Schweizer Comic 2022.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kinder oft auf einem Verdingmarkt versteigert. Den Zuspruch bekam jene Familie, die am wenigsten Kostgeld verlangte. Betroffene beschreiben, dass sie auf solchen Märkten „wie Vieh abgetastet wurden“. In anderen Gemeinden wurden sie wohlhabenderen Familien durch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, auch wenn sie eigentlich gar keine wollten.


Sie wurden meistens auf Bauernhöfen eingesetzt. Dort wurden sie oft wie Sklaven oder Leibeigene behandelt und für Zwangsarbeit ohne Lohn und Taschengeld eingesetzt. Nach Augenzeugenberichten von Verdingkindern wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt. Einige kamen dabei ums Leben.


In einem Podcast für die Kolleg:innen des SRF erzählt Lika davon, dass ihr Vater selbst eines dieser Verdingender war und sie zu diesem Buch inspirierte. Stilistisch ließ sie sich dabei von der Senntumsmalerei inspirieren, einer regionalen Form der Bauernmalerei. Wir wagen die Behauptung: ohne die KIBUM hätten wir nie davon gehört.

Was für ein Bild der Schweiz vermittelst du?


Ich stelle Traditionen grundsätzlich in Frage und versuche dahinter zu leuchten. Deshalb dürfte manches durchaus überraschend sein. Diese Traditionen sind aber ja nur ein kleiner Teil dessen, was ein Land ausmacht. Mir ist es wichtig, ein differenziertes Bild von Natur, Gesellschaft, Kultur, Aktualität und Politik zu zeigen.


Leistet Kunst letztlich auch einen Beitrag zur Völkerverständigung?


Ja, daran glaube ich fest. Kunst weicht Grenzen auf, weil wir uns dabei in unserem ureigenen kreativen Menschsein verstehen - und nicht etwa, weil wir die gleiche Sprache sprechen oder derselben Klasse angehören.


Plakat für die Ausstellung "Schweizer Augen-Blicke" im Rahmen der KIBUM in Oldenburg.
Verlängerung: Die Messe geht am 21.11. zu Ende, die Ausstellung in den Räumen von BBK und Artothek ist einige Tage länger zu sehen. (Bild: Kulturschnack)

Deine Werke sind in einer Ausstellung zu sehen, die ab 5 Jahren empfohlen wird. Warum sollte man sich das auch als Erwachsener ansehen?


Weil ich meine Zeichnungen niemals nur an eine Altersstufe adressiere. Kunst macht keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Meine Illustrationen leben von der Suche nach neuen Bildsprachen und Experimenten.

 


Raum für Entdeckungen


Wir wollen die vielzitierte Kirche im Dorf lassen: Die Ausstellung in den Räumlichkeiten der BBK Galerie und der Artothek ist kein opulentes Spektakel, das uns visuell förmlich umwirft. Die ausgestellten Werke sind tendenziell eher kleinformatig und drängen sich den Betrachter:innen nicht auf. Beinah möchte man sagen: typisch schweizerisch.


Doch in dieser Zurückhaltung liegt auch ein Reiz. Sie bietet Raum für Entdeckungen und lädt im wahrsten Sinne des Wortes zu Annäherungen ein, denn um alle Details zu erfassen, muss man nah ran an die Kunst. Es lohnt sich, auf die kleine Entdeckungsreise in der Peterstraße zu gehen, denn auf diese Weise begegnet man tatsächlich Land, Leuten, Literatur - und bekommt man das zu sehen, was Lika versprach: ein differenziertes Bild von Natur, Gesellschaft, Kultur, Aktualität und Politik. In diesem Sinne: Moin, Schweiz!


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