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DIE EWIGE FRAGE

Für manche Menschen haben Theater Schwellen, die zunächst überwunden werden wollen. Beim Ballett ist es anders: Dort sind es nicht nur Schwellen, dort sind es regelrechte Hürden. Eine große Gruppe der Bevölkerung findet keinen rechten Zugang dazu. Wer noch eine Starthilfe sucht, sollte sich nun „Recycling II“ im Staatstheater anschauen - und wir verraten auch warum.


Szene aus „Recycling II“, einem Ballett-Stück am Oldenburgischen Staatstheater.
Ästhetisch und athletisch: Ballett vermischt ganz unterschiedliche Ebenen zu einem Gesamtkunstwerk. (Bild: Stephan Walzl)

Oha. Der erste Blick aufs Programm dürfte für manche Tanz-Neulinge erstmal abschreckend wirken: 130 Minuten soll „Recycling II“ dauern? Das sind ja über zwei Stunden! Und zu dieser Erkenntnis gesellt sich sogleich die ewige Frage: Muss ich das verstehen? Und was ist, wenn nicht? Wenn ich keine Handlung erkenne, der ich folgen könnte? Und wenn ich mich mal wieder überfordert fühle, weil ich nicht einschätzen kann, ob die Darbietung mittelmäßig oder meisterhaft ist? Dann geh ich lieber gar nicht erst hin.


Aber: Halt! An dieser Stelle sollten wir zwei, drei Gänge zurückschalten. Denn: Was erstmal wie eine drohende Überforderung wirkt, ist das genaue Gegenteil: nämlich hoch attraktiv! Innerhalb der erwähnten 130 Minuten sieht man nicht nur eine, sondern gleich drei Uraufführungen der BallettCompagnie. Die jeweils halbstündigen Stücke sind unterbrochen von zwei zwanzigminütigen Pausen. Man könnte den Abend deshalb mit einem Drei-Gänge-Menü vergleichen: Gut verdauliche Häppchen, mit genug Luft dazwischen, um die Eindrücke sacken zu lassen. Nachdem die Vorteile des Formats geklärt sind, können wir uns nun auf die Inhalte stürzen, also auf den Tanz selbst. Spoiler: Da wird's noch besser!


 

RECYCLING II

DREI CHOREOGRAPHISCHE URAUFFÜHRUNGEN


13. MÄRZ, 20 UHR (TICKETS)

21. MÄRZ, 20 UHR (TICKETS)

27. MÄRZ, 20 UHR (TICKETS)


OLDENBURGISCHES STAATSTHEATER

KLEINES HAUS

26122 OLDENBURG


 

Attraktiv für alle


Ein Hinweis vorab: Wir vom Kulturschnack sind keine leidenschaftlichen Tanz-Enthusiasten, die jede Bewegung mit Fachbegriffen analysieren könnten. Wir gehen an die Sache ebenso wie viele andere, nämlich als absolute - aber interessierte - Laien. Deswegen haben wir auch eine gewisse Vorstellung davon, welche Hürden es gibt und wie man sie überwinden kann. Das lohnt sich, denn: Ballett und Tanztheater sind eben nicht (nur) kryptisch und erratisch, sondern (auch) spannend, bereichernd, mitreißend.





Das gilt insbesondere für „Recycling II“. Drei choreographischn Uraufführungen zu einem abwechslungsreichen Tanzabend zusammenzufassen, ist gewiss keine ganz neue Idee - überzeugend ist sie dennoch. Denn nicht nur für Neulinge ist dieses Format attraktiv, sondern auch für eingefleischte Ballett-Fans. Schließlich kann man nach jeder Darbietung herrlich darüber debattieren, was man soeben gesehen hat. Und das ist in jedem Fall: eine ganze Menge.



Unverständnis als Gelegenheit


Dabei zeigt sich, wie unterschiedlich Tanz sein kann und dass er sich keinesfalls über einen Kamm scheren lassen kann. Den Anfang des Abends macht das Stück „White Line“ des griechischen Gastchoreographen Alex Kros - und was für einen! Es ist von einer hohen Eindringlichkeit und einer intensiven Körpersprache der sechs Tänzer:innen. Das darf man wörtlich nehmen, denn die dargestellten Charaktere erhalten ganz ohne Worte und Mimik eigene Persönlichkeiten - allein durch die Bewegungen.


Mit Leichtigkeit: Die Tänzer:innen schienen der Schwerkraft zu trotzen. (Bild:Stephan Walzl)

Auch musikalisch zieht „White Line“ das Publikum in seinen Bann. Mabe Frattis „Aire“ ist die perfekte Wahl für die ersten Minuten dieses Tanzabends und wird durch Dionisis Sidirokastritis' ‚In Between‘ und Ezio Bossos ‚The Lynch’ ähnlich hochwertig abgelöst. Hier zeigt sich Ballett als Gesamtkunstwerk: Körper, Bewegung, Kostüme, Bühnenbild, Musik - alles fließt zusammen in ein Gesamterlebnis.


Dass es bei alledem um den Kreis als „Symbol des unendlichen Lebenszyklus von Werden, Vergehen und wieder Erstehen“ geht? Kann man anhand der Bewegungen auf der Bühne eventuell erahnen, muss man aber nicht. Denn das Stück funktioniert auch ohne diese Ebene - und das ganz hervorragend.



Audiovisuelle Hyperpotenz


Nach der ersten Pause stehen zum Teil zwar dieselben Tänzer:innen auf der Bühne, die Atmosphäre hat sich aber um einhundertachtzig Grad gedreht. Dafür zeichnet Antoine Jully verantwortlich, der seit der Spielzeit 2017/2018 Direktor der BallettCompagnie Oldenburg ist und dies auch nach dem Intendanzwechsel im Sommer bleiben wird. Unter ihm hat sich diese Sparte noch stärker als Aushängeschild profiliert - und anhand von „Fearful Symmetrien“ erkennt man auch warum.


Der Kontrast zur „White Line“ ist enorm, die optische und musikalische Opulenz vom ersten Moment an regelrecht mitreißend: Im Publikum sieht man schon nach den ersten Takten einige Gäste:innen an den vorderen Rand ihres Sitzes rutschen, um noch einen hauch besser ins Geschehen einzutauchen. Wo das erste Stück eine eigentümliche Intimität erzeugte, der man sich nur schwer entziehen konnte, gibt es hier eine audiovisuelle Hyperpotenz. Die namengebende Komposition von John Adams ist ohne klaren Spannungsbogen geschrieben, sondern eher wie ein halbstündiger Höhepunkt. Jully setzt dementsprechend auf farbenfrohe Outfits, spielerische Elemente und durchaus auch auf Humor. Was an den Symmetries fearful sein sollte? Konnten wir nicht ergründen. Aber wir haben es auch nicht versucht, zu überwältigt waren wir vom Geschehen auf der Bühne.



Große Gesten: Beim Tanz werden Bewegungen überlebensgroß ausdefiniert. Dabei entsteht tatsächlich: Eine Körpersprache. (Bild: Stephan Walzl)

Physik außer Kraft


Das dritte Stück „Re-Movement“ von Dustin Klein wollen wir an dieser Stelle keineswegs unter die Decke kehren, wir wollen uns aber auch nicht in endlosen Beschreibungen verlieren. Dass es hier eine dritte Seite des Tanzes zu sehen gibt, die sich deutlich von den beiden anderen unterscheidet? Versteht sich von selbst.


Auch hier zeigt sich, dass „Recycling II“ keine hochexklusiven Tanzdarbietungen für Eingeweihte und erlauchte Kreise bietet, sondern zeitgemäßes, modernes Ballett, das hervorragend unterhält. Um mal im Bild des Drei-Gänge-Menüs zu bleiben: Es gibt hier nicht nur Haute Cuisine mit Austern, Trüffel oder Foie gras, es gibt hier All you can eat mit Burger, Pizza, Curry. Das schmeckt allen.


UNGEWÖHNLICHER TITEL WARUM „RECYCLING II“? Nein, die BalletCompagnie ruft nicht zu mehr Umweltbewusstsein auf. Der Grund für den Titel ist ein anderer: Die Bühnenbilder und Kostüme der drei Ballette stammen aus dem reichhaltigen Fundus des Oldenburgischen Staatstheaters und werden für diesen Abend in einen künstlerisch neuen Zusammenhang gebracht. Diese Wiederverwertung macht den Tanzabend dann aber tatsächlich nachhaltig. Und die „II“? Sie resultiert - wenig überraschend - aus der Tatsache, dass dieses Konzept bereits zum zweiten Mal umgesetzt wurde. Eben weil es zwar einfach ist, aber genial.


Einmal mehr stellt sich die Erkenntnis ein: Tanz ist eine Kunstform, mit der eigentlich jede:r etwas anfangen könnte - schließlich verfügen wir alle selbst über einen Körper. Jedenfalls ist es ein großes Vergnügen, den Tänzer:innen dabei zuzusehen, wie sie die Gesetze der Physik außer Kraft zu setzen scheinen.



Eine einfache Antwort


Überraschenderweise ist die Antwort auf die ewige Frage „Muss ich das verstehen?“ erstaunlich simpel. Sie lautet: Nein.


Natürlich haben wir alle die Sehnsucht, in unseren Beobachtungen einen Sinn zu entdecken oder einer Handlung zu verfolgen. Das sollte aber den Spaß an der Sache nicht überlagern. Sonst erstickt man die Kunst auf der Bühne nur mit dem eigenen Gedankenballast. Bei Tanzspektakeln wie „Recycling II“ gibt es so vieles zu entdecken, zu bestaunen, zu genießen, dass man die Metaebene des Verständnisses nicht aufmachen muss - oder sollte. Schön ist, wenn’s funktioniert - aber unproblematisch, wenn nicht. Die Gedanken sind frei! 


Werft also den ganzen Ballast über Bord, den viele von uns mit sich herumschleppen, wenn es um das Thema Tanz geht. Probiert's einfach mal aus, lasst euch drauf ein, und überfordert euch nicht. Dann ist Tanz das, was es immer war: ein Ausdruck der Freude - auch fürs Publikum! 


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