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SEID NICHT SO HÖFLICH!

Es gehört immer wieder zu den schönsten - und intensiven - Momenten im Leben, wenn man nichts erwartet und dann - gerade deshalb - vollkommen überrascht wird. So geschehen ist es an einem nasskalten Dienstagvormittag im November, als „Die vier neuen Jahreszeiten“ im Technical Ballroom ihre zweite Aufführung feiern. Das kammerspielartige Monolog-Stück erzeugte an diesem Morgen eine ungeheure Wucht, der sich kaum jemand entziehen konnte.


Das Ende der Eisbären: Sie verlieren ihren Lebensraum bereits. Wird die Menschheit irgendwann folgen? (Bild: Lukasz Lawicki)

Eigentlich wollten wir keinen eigenen Artikel über dieses Stück schreiben. Schließlich haben wir den Technical Ballroom hier und hier und hier schon ausführlich thematisiert. Das hier stand also nie im Redaktionsplan. Trotzdem haben wir eine Vorstellung besucht - und sind im Nachhinein dankbar dafür. Aber der Reihe nach.


Nein, an Klimawandel denkt vermutlich niemand an diesem Novembermorgen. Es ist kalt, es nieselt, es ist alles so ungemütlich wie immer. Zumindest oberflächlich betrachtet. Dass daran ganz und gar nichts stimmt, erfahren wir kurz danach in der Exerzierhalle. Denn dort begleiten wir eine junge Wissenschaftlerin dabei, wie sie angesichts der Entwicklungen in der Welt - und auch wegen der Systematik des akademischen - zum Klimaaktivismus wechselt. Über allem steht die Frage °Wie konnte es so weit kommen?" - ohne zu wissen, ob damit die Entscheidung gemeint ist oder die Gründe dafür.


 

TECHNICAL BALLROOM: DIE VIER NEUEN JAHRESZEITEN


FEAT. SCIENTIST REBELLION DIENSTAG, 13. DEZEMBER, 10:30 UHR (KARTEN) DIENSTAG, 20. DEZEMBER, 20 UHR (KARTEN) MITTWOCH, 21. DEZEMBER, 10:30 UHR (AUSVERKAUFT) DIENSTAG, 10. JANUAR, 20 UHR (KARTEN)

EXERZIERHALLE JOHANNISTRAßE 6 26121 OLDENBURG

 

The only way is up


Erzählt wird die Entwicklung der namenlosen Protagonistin - gespielt von der erst 18-jährigen Marie Becker - in Zusammenhang mit der Oper „Die vier Jahreszeiten“, die Antonio Vivaldi im Jahr 1725 komponierte.

Antonio Vivaldi - Die vier Jahreszeiten
Titelseite der vier Jahreszeiten: War die Welt damals noch in Ordnung?

Kurze Rückblende: Damals hatte die Erde gerade eine kleine Eiszeit überwunden, in Folge derer die Durchschnittstemperatur um 2 bis 3 Grad abgesunken war. Danach kehrte auch die Natur in voller Pracht zurück - ein optisch-sinnliches Gesamterlebnis, das Vivaldi entscheidend inspiriert haben dürfte.


Der Haken daran: Seitdem kannte die Temperatur nur noch einen Weg, nämlich den nach oben. Und das hat sehr viel mit einem anderen Anstieg zu tun, nämlichen jenem der Weltbevölkerung. Mitte des 18. Jahrhunderts zählte diese noch 660 Millionen Menschen. Heute sind es annähernd 8 Milliarden, das ist das Zwölffache! Und damit einher gehen die zahlreiche zivilisatorischen Entwicklungen - vor allem in den Bereichen Energie, Verkehr und Konsum - bis hin zur absoluten Überflussgesellschaft der Gegenwart.


Das Setting ist also klar und im Großen und Ganzen auch nicht vollkommen unbekannt. Dass sich die Welt auf einem rasanten Weg zu ihren Limits befindet, dürfte zumindest niemanden mehr überraschen. Was also ist das Besondere an diesem Stück? Das lässt sich tatsächlich ganz einfach beantworten, mit vier schlichten Worten: Die Art der Umsetzung.



The only way is out


Eindringlich: In der Rolle der Wissenschaftlerin überzeugt Marie Becker (Bild: Lukasz Lawicki)

Zunächst einmal ist es schlichtweg genial, eine Geschichte über die globale Klimakatastrophe anhand von Vivaldis Oper zu inszenieren. Wer auch immer diesen Einfall hatte: Chapeau! Denn dieser Kniff eröffnet äußerst eindrückliche Erzählmöglichkeiten.


Im Wechselspiel erleben wir zum einen die junge Wissenschaftlerin, die uns in emotionalen Monologen an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben lässt. Die sind zahlreich und zunehmend intensiv. Als junges Forschungstalent wird sie zu einer klassischen akademischen Karriere gedrängt - die aber einerseits erfordert, sich an die Gesetzmäßigkeiten zu halten und andererseits zur Folge hat, dass die junge Frau sich stärker von der Natur entfremden müsste als ihr lieb ist. Eine kluge Entscheidung war es, bei den Texten auf das Know-how von Scientist Rebellion zurückzugreifen. So entgeht man der Gefahr, sachlich ungenau zu werden - und hat zudem handfeste Fakten zur Verfügung. Zum Beispiel die Tatsache, dass die globale Textilindustrie pro Jahr 100 Milliarden Kleidungsstücke produziert, von denen nur ein Prozent wiederverwertet wird. Aber damit fangen wir an dieser Stelle besser gar nicht erst an.


WER IST SCIENTIST REBELLION?

Scientist Rebellion ist ein Netzwerk von etwa über tausend Wissenschaftler:innen in rund dreißig Ländern der Erde, darunter auch Deutschland. Auf Basis von Erkenntnissen der Wissenschaft fordert es sofortige Maßnahmen zur Begrenzung der Klimakrise und führt dazu Protestaktionen mit Mitteln des zivilen Ungehorsams durch.


Damit zeigt es eine Artverwandtschaft mit der „Letzten Generation“, die in den letzten Monaten mit ihren spektakulären und provokanten Protesten aufgefallen ist und damit Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurde.


Beide Vereinigungen stehen vor einem ähnlichen Dilemma: Mit ihren Anliegen dringen sie nicht durch, obwohl die Fakten eine deutliche Sprache sprechen. Die Eskalation erscheint deswegen notwendig, erzeugt aber auch Gegenwind. Welcher Weg ist der Richtige? Die Antwort darauf liegt im Auge des Betrachters und fällt entsprechend unterschiedlich aus.


Trotz allem werden viele Besucher:innen am Ende der Vorstellungen eine Frage im Kopf haben: Wie kann ich da mitmachen?

Musik als Methode


Ihren Ausführungen stehen Elemente aus Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ gegenüber, die zum Teil vom (eigens von Mitgliedern des Staatsorchesters eingespielten) Band kommen, die aber - ganz wichtig! - von je einer einzelnen Musikerin live gespielt werden. Man könnte denken: Schade, warum nicht das ganze Orchester? Aber:


Die Intimität hat nicht nur organisatorische Gründe. Dadurch entsteht eine ganze eigene Atmosphäre zwischen. Empfindsamkeit und Verlorenheit.

Dafür sorgt auch die Musik. Selbst wer mit Klassik absolut gar nichts am Hut hat, wird erstaunt sein, wie viele Passagen der „Vier Jahreszeiten“ ihr/ihm geläufig sind - sei es aus Filmen, Werbung oder anderen Klangquellen. Und während das Stück seinerzeit lediglich die Natur zum Gegenstand hatte und ihren Verlauf klanglich nachskizziert, hat man heute - entlarvenderweise - ganz andere Assoziationen.



Wenn die Musik aufbrandet und an Dramatik gewinnt - dann denken wir nicht an einen Herbststurm, nein, wir denken an den Weltuntergang. Das hat allerdings auch mit einer zweiten Qualität des Stücks zu tun: Auf den riesigen Screens hinter den Violinistinnen Agnes Izdebska-Goraj und Maja Syrnicka werden eindrückliche Bilder gezeigt: Qualmende Schlote, volle Fließbänder, sinnloser Konsum, schmelzende Gletscher, trockenen Flüsse, sterbende Arten - es wird nichts ausgelassen, was wir als Menschheit zu verantworten haben. Johannes Wagner ist hier eine starke Video-Collage gelungen.



Das Fieber steigt


Anfänglich sind die Monologe der jungen Wissenschaftlerin noch sachliche Bericht, weitgehend frei von Pathos und Dramatik. Doch das ändert sich zunehmend. Die Ansichten und Aussichten werden immer dystopischer, oder sollte man sagen: realistischer?


Starker Kontrast: Schöne Klänge vor rauchenden Schloten (Bild: Kulturschnack)

Dazu passt der Rahmen: Über das Stück hinweg steigt auf einer LED-Wall am Bühnenrand unaufhörlich eine Fieberkurve an. Was ist es, fragt man sich: Ein Börsenindex oder eine Temperaturskala? Es könnte beides sein, wodurch sich die Frage aufdrängt, ob beides nicht auch ganz direkt zusammenhängt: Die Wirtschaftsleistung und die Erderwärmung. Was wollen wir, Boom oder Baum? Beides gemeinsam scheint nicht zu haben zu sein. Tatsächlich handelt es sich aber um die unaufhaltsam steigende CO2-Konzentration in der Atmosphäre - und deren Dynamik gewinnen durch diese Darstellung nochmals an Dramatik.


Trotz allem keimt immer wieder die naive Hoffnung auf, dass irgendwoher die Rettung naht oder die einfache Lösung kommt. Aber: Nein. Die alte, aber eben auch wahre Erkenntnis dazu lautet: Veränderung beginnt bei uns. Und es reicht eben nicht, öfter mal das Licht abzuschalten, um den Planeten zu retten.


Und das ist nun die dritte große Qualität des Stücks. Neben des klug gewählten Settings und dem wirkungsvollen Einsatz digitaler Elemente sind „Die vier neuen Jahreszeiten“ nämlich vor allem: sehr berührend. An der einen oder anderen Stelle gewinnt die Inszenierung durch die Kombination aus Monolog und Musik derart an Wucht, dass einigen Besucher:innen eine kleine Träne im Augenwinkel steht. Das Zusammenspiel der beiden Ebenen ergibt eine eigene Komposition, die uns eindringlich vor Augen führt, was wir gerade tun. Wir im Sinne von: jede/-r von uns.


Noch nie hat es sich so gut angefühlt, sich schlecht zu fühlen.


In den Bann gezogen


Wie gut das alles funktioniert, erkennt man auch beim Blick in den überwiegend von Schüler:innen besetzten Saal - es ist ja ein Vormittag. Sie verarbeiten die Informations- und Emotionsflut nicht etwa feixend mit Pennälerhumor, nein, sie sitzen allesamt schweigend da, bewegt und betroffen. Was dieses Stück in gerade einmal einer Stunde mit nur drei Personen auf der Bühne erreicht, ist erstaunlich. Fast möchte man fordern, dass es zum Pflichtprogramm in Schulen werden müsste - denn wie könnte man besser Hochkultur mit Zeitgeschichte, Politik, Wissenschaft und Engagement verknüpfen?


Erstaunlich ist zudem etwas anderes: Nicht die Monologe dominieren die Spielzeit, sondern die Musik. Das Verhältnis könnte grob geschätzt 30:70 betragen. Das hätten wir im Vorfeld sofort als Knackpunkt identifiziert, was die Aufmerksamkeit des jungen Publikums betrifft. Doch die künstlerische Leitung um Regisseur Kevin Barz und Dramaturgin Saskia Kruse hat die richtigen Fragen gestellt: Warum soll man nicht mal alleine sein mit seinen Gedanken? Warum soll man nicht mal Gelegenheit haben, in Musik einzutauchen und seine Gefühle zu spüren? Und die stummen Antworten geben Hoffnung.


„Die vier neuen Jahreszeiten“ in Oldenburg
Hoffnungsperspektive: Im Jahr 2050 könnte die Klimakrise bewältigt sein - oder auch nicht. Es liegt an uns. (Bild: Kulturschnack)

Überraschend dabei: am unbequemsten für alle sind tatsächlich jene Momente, die einfach unseren Alltag abbilden - unser Verhalten, unseren Konsum, unsere Verschwendung, unseren Verkehr - auf dem Screen dargestellt durch reale Werbespots und Ausschnitte aus Kinofilmen, Nachrichten und Dokus.


Die stumpfe Blödsinnigkeit unseres Verhaltens ist tatsächlich frappierend. Der Alltag ist das Problem.

Immerhin wird zum Ende hin eine Hoffnungsperspektive aufgezeigt. Die Botschaft: Die Klimakrise ist zu bewältigen, wenn auch mit immensen Kosten. Uns kam diese Wendung eine Spur zu tröstlich daher - denn aktuelle spricht noch nichts dafür, dass die globale Eliten tatsächlich zum Handeln bereit sind. Aber wahrscheinlich braucht es diese Form des Optimismus, erst Recht für die jüngere Generation. Schließlich muss man wissen, wofür man kämpft.



Das Ende der Höflichkeit


Was sind „Die vier neuen Jahreszeiten“ nun? Kundgebung? Kammerspiel? Konzert? Das lässt sich nicht beantworten - und das ist eine gute Nachricht! Entstanden ist nämlich vielmehr ein Gesamtkunstwerk aus Musik und Schauspiel, aber auch aus Videocollage und -effekten. Alles trägt dazu bei, dass dieses Erlebnis so intensiv ist, dass man sich ihm nicht entziehen kann - oder will.

Sind offensichtlich nötig: Spektakuläre Aktionen - hier begleitet durch filigranes Violinenspiel (Bild: Lukasz Lawicki)

Vielleicht bleibt nicht viel Raum für schauspielerische Finesse, vielleicht wandelt sich die junge Wissenschaftlerin etwas schnell, aber das ist natürlich zweierlei geschuldet: den wechselnden Auftritten mit der Musik - und der insgesamt kurzen Spielzeit. Für die Feinheiten der Charakterzeichnung bleibt da natürlich wenig Raum. Aber darauf kommt es hier auch nicht an: Entscheidender: die zunehmende Emotionalisierung ist glaubhaft und mitreißend. Wenn uns die junge Marie Becker am Ende ins Gesicht ruft „Verdammte Scheiße! Seid nicht so scheiß-höflich!!", dann ist das effektvoller und authentischer als jedes theatralische Männer-Gebrüll.


Man kann dem Stück nur eines wünschen: ausverkaufte Vorstellungen. Für Vivaldi, der es immer verdient hat, gehört zu werfen. Für die Scientist Rebellion, die viel mehr ist als spektakulärer Aktivismus. Für unsere Gesamtgesellschaft, die solche Erfahrungen nötig hat, um in Bewegung zu geraten. Vor allem aber für die Verbindung aus allem! Denn das berührt uns - vielleicht so sehr, dass wir unsere Höflichkeit tatsächlich irgendwann aufgeben. Selbst an nasskalten Novembertagen, wenn der Klimawandel ganz weit weg zu sein scheint.


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